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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 55.1939-1940

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Christoffel, Ulrich: Klassizismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.16488#0205

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Bertel Thorwaldsen. Ganymed, den Adler tränkend
Thorwaldsenmuseum, Kopenhagen

Klassizismus. Von Ulrich Chrisfoffel

Der Klassizismus als Richtung und Begriff, theore
tische Forderung und künstlerische Wirklichkeit hat
zu allen Zeiten zu lebhaften Kontroversen geführt.
Die einen wollten in den klassizistischen Bewegun-
gen nur die Nachahmung, die akademische Fessel
oder eine kalte Doktrin sehen, während die andern
immer den Zug zum Gesunden, Richtigen, Rationa-
len anerkennen und den idealen "Willen zum Klassi-
schen bewundern. Was der Nachwelt als Klassizis-
mus erscheint, hat die Mitwelt oft als ihre Klassik
erlebt, und innerhalb derselben Zeit galten Goethe
und Schiller als klassisch, ihre Zeitgenossen Carstens,
Schinkel, Thorwaldsen aber nur als klassizistisch.
Goethe selber vertrat in den Propyläen in Abwehr
gegen gewisse formale Auswüchse seiner Umgebung
einen kunsterzieherischen Klassizismus, obwohl er in
seiner Dichtung nur der freien Eingebung seines
Geistes folgte. Das Klassische ist das Ursprüngliche,
das Klassizistische Sehnsucht nach dem Ursprüng-
lichen und die Erkenntnis des richtigen Weges. Immer
war das Klassizistische eine Konstante, die gegen-

über allem Romantischen, Phantastischen, Gotischen,
Volkstümlichen, Realistischen, Bürgerlichen, Genre-
haften, Grotesken eine höhere geistige Haltung be-
ansprucht hat und die aus den Eigenschaften des
Mäßigenden, Abgerundeten. Ausgewogenen, Kon-
tinuierlichen eine unangreifbare moralische Festig-
keit ableiten konnte. Ein zügelloser Individualismus,
eine eigensinnige Manier oder ein naiver Naturalis-
mus werden im Klassizismus stets die Überlegenheit
der gebundenen Form, den Zwang des Logischen und
das geschulte und oft virtuose Können zu fürchten
haben. Gleichzeitig erscheint aber der Klassizismus
gegenüber dem schöpferischen Genie, gegenüber
Grünewald; Rembrandt oder Michelangelo wieder
als ein akademisches, ängstliches, rechthaberisches
Prinzip, das jedes Hervorbringen eigenwilliger, see-
lischer Äußerungen unterbindet und an das sich die
schwachen Talente wie an einen Balken, der sie über
Wasser hält, anklammern. Der Klassizismus kann
ein Ethos sein, ein Ethos der künstlerischen Persön-
lichkeit oder ein Ethos der Macht und des Volkswil-

Kunst für Alle, Jahrg. 55, Heft 9, Juni 1940

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