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Laokoon.
100
des Nennens wert ist. Der Biss einer Schlange!
Nadelstiche, welche allein dadurch schreckenerregend
wirken, dass dem Gebissenen die Folge des tödlichen
Giftes der Schlangenzähne klar vor Augen stehen,
wenn der Verwundete weiss, dass er sterben ruuss.
Über den rein geistigen Vorgang solcher Vorstellungen
wird die Empfindung ganz übertäubt, welche durch
eine geringfügige Verletzung des Körpers hervor-
gerufen werden kann.
Der Punkt, durch welchen der Laokoon der
rhodischen Künstler Bewunderung und Sympathie
durch die Jahrhunderte hindurch wach gerufen hat,
muss tiefer liegen, als im physischen Schmerz.
Das beredte und wuchtige Mienenspiel Laokoons
ist für alle Beobachter die Ursache der Mitempfin-
dung geworden, nur die Deutung dieser Schrift-
zeichen des Schmerzes ist fast bei jedem Erklärer
eine andere.
Die widersprechendsten Empfindungen sind aus
diesem Antlitz herausgelesen: Unterliegen unter dem
körperlichen Schmerz, Beherrschung des Schmerzes,
Hilfeflehen von den Göttern, Vorwürfe gegen die
Götter, Mitleid mit dem Los der Kinder — alles dies
und mehr noch hat man gleichzeitig ausgeprägt
gefunden, während Guizot die Thatsache feststellt,
dass alle Meisterwerke alter Plastik nur einen
einzigen, einfachen und sehr bestimmten Ausdruck
anschaulich machen.
Der Bildhauer ist in dieser Beziehung beschränkter
in seinen Mitteln, als irgend ein anderer Künstler,
er läuft Gefahr gänzlich unverständlich zu werden,
wenn er versuchen sollte, in den Gesichtszügen wider-
sprechende Empfindungen darzustellen.
Es ist deshalb nicht zu bestreiten, dass Guizot
recht hat. Sollte ein Kunstwerk von der Bedeu-
tung des Laokoon gerade eine Ausnahme von der
Regel machen? Ehe man das annimmt, wird man
vielmehr suchen müssen, die Einheitlichkeit des Aus-
druckes auch beim Laokoon nachzuweisen.
Der gegen den Gott begangene Frevel giebt eine
erschöpfende Erklärung, wenn man sich überzeugt,
dass nichts so sehr im Antlitz des Laokoon zum
Ausdruck kommt, wie das Bewusstsein der unge-
sühnten Schuld.
Laokoon sieht sich nicht nach Hilfe um, er sieht
nicht vorwurfsvoll zum Himmel empor — wie etwa
die Niobe, welche zu grausam für ihren an sich be-
rechtigten Mutterstolz bestraft wird, — sondern die
Augen verschwinden fast unter den zusammengezo-
genen Brauen und den halbgeschlossenen Lidern;
es scheint, als wollten die Augen sich verstecken,
wodurch gerade der Ausdruck gewonnen wird, wie
bestimmt Laokoon weiss, dass durch seine Schuld
jede Hoffnung auf Hilfe vergeblich ist.
Neben dem Schuldbewusstsein, welches das Ge-
sicht und den ganzen Leib des Laokoon durchzuckt,
geht ein zweites eng damit zusammenhängendes
Motiv einher: der seelische Schmerz um die Söhne,
welche gleichzeitig mit dem Vater durch die Schuld
des Vaters untergehen. Dieser Schmerz liegt in den
Stirnfalten ausgeprägt wie in den nach oben ge-
zogenen Brauen.
Der Gesamtausdruck des Gesichtes wird noch ver-
stärkt durch die Bewegung des rechten Nasenflügels
und des rechten Mundwinkels nach oben, die Wir-
kung eines einzigen Muskels (levator anguli oris
alaeque nasi). Diese Bewegung, so wirkungsvoll
sie ist, ergänzt jedoch nur das übrige Mienenspiel
und würde ausser dem Schmerz und der Beue eben-
sogut der Geringschätzung, dem Spott, der Furcht
und anderen Empfindungen Ausdruck geben können;
man denke z. B. an den von einem Eroten gefesselten
Kentauren im Capitolinischen Museum, dessen Gesicht
durch diesen Muskel besonders kräftig bewegt ist.
Schuldbewusstsein und die aus demselben hervor-
gehende Reue verleihen dem Laokoon erst jenes
tragische Pathos, das ihn über die Zufälligkeiten eines
plötzlich hereinbrechenden schweren Unglückes er-
hebt; dadurch allein bekommt seine Gestalt eine all-
gemein menschliche Bedeutung, welche ihm die Sym-
pathie aller Zeiten sichert.
Die Bedeutung des Gesichtsausdruckes würde
für das Verständnis der ganzen Figur noch deut-
licher hervortreten, wenn der rechte Arm Laokoons
in seiner ursprünglichen Stellung erhalten oder
wieder hergestellt wäre. Dadurch, dass der rechte
Arm in kraftvoller Bewegung in die Höhe gerichtet
ist und den schweren Leib der Schlange zu tragen
scheint, wird eine Vorstellung des Widerstandes her-
vorgerufen, welche mit der ganzen übrigen Erschei-
nung in Widerspruch steht. Andererseits würde der
herabsinkende Arm eine Einfassung des Gesichtes
von der rechten Seite her bilden, welche die Wirkung
des Mienenspiels und des bewegten Haares durch
den Kontrast der glatten Armflächen erhöhen müsste.
Dass nicht der physische Schmerz das leitende
Motiv im Laokoon sein kann, wird durch eine ganze
Reihe plastischer Werke aus den verschiedensten
Perioden griechischer Kunst bestätigt, welche Ver-
wundete und Sterbende darstellen: sie alle bewahren
ihre äussere Haltung, ohne durch gewaltsame Aktion
dem physischen Schmerz Ausdruck zu geben.
Laokoon.
100
des Nennens wert ist. Der Biss einer Schlange!
Nadelstiche, welche allein dadurch schreckenerregend
wirken, dass dem Gebissenen die Folge des tödlichen
Giftes der Schlangenzähne klar vor Augen stehen,
wenn der Verwundete weiss, dass er sterben ruuss.
Über den rein geistigen Vorgang solcher Vorstellungen
wird die Empfindung ganz übertäubt, welche durch
eine geringfügige Verletzung des Körpers hervor-
gerufen werden kann.
Der Punkt, durch welchen der Laokoon der
rhodischen Künstler Bewunderung und Sympathie
durch die Jahrhunderte hindurch wach gerufen hat,
muss tiefer liegen, als im physischen Schmerz.
Das beredte und wuchtige Mienenspiel Laokoons
ist für alle Beobachter die Ursache der Mitempfin-
dung geworden, nur die Deutung dieser Schrift-
zeichen des Schmerzes ist fast bei jedem Erklärer
eine andere.
Die widersprechendsten Empfindungen sind aus
diesem Antlitz herausgelesen: Unterliegen unter dem
körperlichen Schmerz, Beherrschung des Schmerzes,
Hilfeflehen von den Göttern, Vorwürfe gegen die
Götter, Mitleid mit dem Los der Kinder — alles dies
und mehr noch hat man gleichzeitig ausgeprägt
gefunden, während Guizot die Thatsache feststellt,
dass alle Meisterwerke alter Plastik nur einen
einzigen, einfachen und sehr bestimmten Ausdruck
anschaulich machen.
Der Bildhauer ist in dieser Beziehung beschränkter
in seinen Mitteln, als irgend ein anderer Künstler,
er läuft Gefahr gänzlich unverständlich zu werden,
wenn er versuchen sollte, in den Gesichtszügen wider-
sprechende Empfindungen darzustellen.
Es ist deshalb nicht zu bestreiten, dass Guizot
recht hat. Sollte ein Kunstwerk von der Bedeu-
tung des Laokoon gerade eine Ausnahme von der
Regel machen? Ehe man das annimmt, wird man
vielmehr suchen müssen, die Einheitlichkeit des Aus-
druckes auch beim Laokoon nachzuweisen.
Der gegen den Gott begangene Frevel giebt eine
erschöpfende Erklärung, wenn man sich überzeugt,
dass nichts so sehr im Antlitz des Laokoon zum
Ausdruck kommt, wie das Bewusstsein der unge-
sühnten Schuld.
Laokoon sieht sich nicht nach Hilfe um, er sieht
nicht vorwurfsvoll zum Himmel empor — wie etwa
die Niobe, welche zu grausam für ihren an sich be-
rechtigten Mutterstolz bestraft wird, — sondern die
Augen verschwinden fast unter den zusammengezo-
genen Brauen und den halbgeschlossenen Lidern;
es scheint, als wollten die Augen sich verstecken,
wodurch gerade der Ausdruck gewonnen wird, wie
bestimmt Laokoon weiss, dass durch seine Schuld
jede Hoffnung auf Hilfe vergeblich ist.
Neben dem Schuldbewusstsein, welches das Ge-
sicht und den ganzen Leib des Laokoon durchzuckt,
geht ein zweites eng damit zusammenhängendes
Motiv einher: der seelische Schmerz um die Söhne,
welche gleichzeitig mit dem Vater durch die Schuld
des Vaters untergehen. Dieser Schmerz liegt in den
Stirnfalten ausgeprägt wie in den nach oben ge-
zogenen Brauen.
Der Gesamtausdruck des Gesichtes wird noch ver-
stärkt durch die Bewegung des rechten Nasenflügels
und des rechten Mundwinkels nach oben, die Wir-
kung eines einzigen Muskels (levator anguli oris
alaeque nasi). Diese Bewegung, so wirkungsvoll
sie ist, ergänzt jedoch nur das übrige Mienenspiel
und würde ausser dem Schmerz und der Beue eben-
sogut der Geringschätzung, dem Spott, der Furcht
und anderen Empfindungen Ausdruck geben können;
man denke z. B. an den von einem Eroten gefesselten
Kentauren im Capitolinischen Museum, dessen Gesicht
durch diesen Muskel besonders kräftig bewegt ist.
Schuldbewusstsein und die aus demselben hervor-
gehende Reue verleihen dem Laokoon erst jenes
tragische Pathos, das ihn über die Zufälligkeiten eines
plötzlich hereinbrechenden schweren Unglückes er-
hebt; dadurch allein bekommt seine Gestalt eine all-
gemein menschliche Bedeutung, welche ihm die Sym-
pathie aller Zeiten sichert.
Die Bedeutung des Gesichtsausdruckes würde
für das Verständnis der ganzen Figur noch deut-
licher hervortreten, wenn der rechte Arm Laokoons
in seiner ursprünglichen Stellung erhalten oder
wieder hergestellt wäre. Dadurch, dass der rechte
Arm in kraftvoller Bewegung in die Höhe gerichtet
ist und den schweren Leib der Schlange zu tragen
scheint, wird eine Vorstellung des Widerstandes her-
vorgerufen, welche mit der ganzen übrigen Erschei-
nung in Widerspruch steht. Andererseits würde der
herabsinkende Arm eine Einfassung des Gesichtes
von der rechten Seite her bilden, welche die Wirkung
des Mienenspiels und des bewegten Haares durch
den Kontrast der glatten Armflächen erhöhen müsste.
Dass nicht der physische Schmerz das leitende
Motiv im Laokoon sein kann, wird durch eine ganze
Reihe plastischer Werke aus den verschiedensten
Perioden griechischer Kunst bestätigt, welche Ver-
wundete und Sterbende darstellen: sie alle bewahren
ihre äussere Haltung, ohne durch gewaltsame Aktion
dem physischen Schmerz Ausdruck zu geben.