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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 1.1889/​90

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Greve, Georg: Die nackte Figur im Vordergrunde von Holbeins Madonna des Bürgermeisters Meyer
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https://doi.org/10.11588/diglit.3772#0198

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Die nackte Figur im Vordergrunde von Holbeins Madonna des Bürgermeisters Meyer. — Bücherschau.

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darum könne er unmöglich Johannes sein. Ich weiss
nicht, ob es ein Porträt ist. Weiss man es über-
haupt? Wäre es aber auch der Fall, so änderte
das nichts an der Sache. Könnte nicht Holbein das
Porträt und Johannes in einer Figur vereinigt haben,
wie wir auch auf vielen mittelalterlichen Bildern
Porträts in religiöse Darstellungen verflochten finden?
Die kindliche Reinheit liesse eine solche Verwendung
zu einem Heiligen am ehesten zu.

Man wendet mir ferner ein, der Knabe habe nur
seine Lust an dem Teppich, er verspüre Neigung,
sidi vielleicht dahinein zu wickeln, da er von
den ernsten andächtigen Gebeten der übrigen noch
nichts verstehe.

Eine solche genrehafte Auslegung steht aber
mit der bedeutenden Pose des Johannes — wie ich
ihn nennen zu dürfen glaube — durchaus nicht im
Einklang, vielmehr ist es augenfällig, dass derselbe aus
der Behandlung der übrigen fünf Figuren (Porträts)
besonders abgehoben und ähnlich wie Christus spre-
chend dargestellt ist. Warum ist er denn nackt und
nicht statt dessen, wie seine Eltern und Geschwister,
im Kostüm seiner Zeit aufgeführt? Dadurch ist er
schon mit Christus in eine gewisse engere Verbin-
dung gebracht, und man wird an die hergebrachte
Weise erinnert, Jesus und Johannes nackt darzu-
stellen. Beide erscheinen offenbar als die wesent-
lichsten Figuren des Bildes, denen die übrigen nur
als durchgeistigter Hintergrund dienen.

Man antwortet mir ferner: Wenn ein Meister
wie Holbein spräche, so wisse der sich gewiss klarer
und verständlicher auszudrücken, etwa durch das
Fähnchen mit dem „Ecce agnus Dei" oder durch ein
Fell. Ich erlaube mir die Frage: Ist das deutlich
ausgedrückt? Deutlich, doch nur für den Einge-
weihten. Hier aber finden wir eine Sprache, die
jeder verstehen kann, der die Geschichte des Täufers
kennt. Man darf wohl annehmen, dass die Esels-
brücke der Attribute, die bequem ein tieferes Nach-
denken erspart, Holbein zu wohlfeil war, dass er
sich ihrer schämte, dass er seines Geistes sich voll
und ganz bewusst, versuchte die Sprechkraft seiner
Kunst zu erproben, oder richtiger, dass diese Sprache
aus dem unerschöpflichen Quell seiner hohen Be-
gabung ohne grossen Zwang natürlich floss. Wir
stehen hier staunend vor einer köstlichen Blüte
menschlichen Geistes und müssen bekennen, dass es
selten so treffend gelungen ist, eine Idee äusserst
klar zur Geltung zu bringen, eine Figur deutlich zu
kennzeichnen, ohne ihr gleichsam den Namen an

die Stirn zu schreiben, wie das in den Zeiten der
Allegoristerei und Symbolisterei geschah.

Das Vorläufer- und Bahnbrecheramt Johannis
des Täufers spricht sich also im Aufmerken auf die
Falte klar aus. Wir dürfen uns nicht wundern, noch
es vergessen, dass im Mittelalter die Künstler nicht
nur gläubig, sondern auch durch die Schule und ihre
vorzugsweise religiöse Kunst gezwungen waren, bib-
lische Geschichte zu kennen. Sie waren in derartigen
Gedanken bewandert.

So mochte denn Holbein die oben angezogene
Stelle aus dem Propheten Jesaias gleichsam in den
Ohren tönen, als er sein Bild schuf. Dieselbe drückt
das Vorläufer- und Bahnbrecheramt des Johannes
aus, und wie in unserem Bilde das Kind Christus
segnend und mit einem überaus tiefen geistigen Aus-
druck dargestellt ist, so scheint auch hier dem Jo-
hannes trotz seines Kindesalters eine hervorragender
Gedanke auf seiner Stirn zu thronen. Der Gedanke
nämlich: „Das liebe Jesulein könnte über diese Falte
fallen; ich will sie schlicht machen". Solche rührende
Vorsorge finden wir oft bei Kindern, und es wäre so-
mit das Mittel, welches Holbein ergriffen, um so
natürlicher.

Jedenfalls muss ich es vorziehen, eine solche,
mit dem Ganzen völlig in Einklang stehende Aus-
legung gegen eine andere anzuerkennen, die ganz
bedeutungslos erscheint und den göttlichen Hauch
nur störte, der das Werk des Meisters durchweht.

Noch möchte ich bemerken, dass das Genrehafte
in dieser Darstellung für Holbeins Pinsel doch viel
zu ungeschickt angebracht wäre an einer Stelle, wo
es ihm offenbar darauf ankam, das Höchste zu leisten,
was Menschenhände vermöchten. Dass er es hier
versuchte, fühlen wir in jeder Kleinigkeit seiner
erhabenen Schöpfung.

GEORG GREVE.

BÜCHERSCHAU.

y. — Böhcinis Handbuch des Waffenwesens in seiner
historischen Entwicklung (Leipzig, Verlag von E. A. See-
mann) ist nunmehr bis zur 8. Lieferung gediehen und lässt
das Ende bereits absehen. An dem ebenso reich wie ge-
schmackvoll illustrirten Werke — die Zeichnungen rühren
sämtlich von Anton Kaiser in "Wien her — werden nicht
nur die Fachleute ihre Freude haben, sondern auch der Laie,
der sich für den Zusammenhang der Kriegsgeschichte mit
der Entwickelung des Waffenwesens interessirt. Der in Fach-
kreisen als einer der vorzüglichsten Kenner anerkannte Ver-
fasser, dem als Kustos der Waft'ensammlung des österreichi-
schen Kaiserhauses ein überaus mannigfaltiges Studienmate-
rial zu Gebote steht, erweist sich in dem Buche als ein
ebenso gewandter wie verständiger Schriftsteller, dessen Aus-
führungen mit ihren kulturgeschichtlichen Seitenblicken jeder
 
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