KUNSTCHRONIK
WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE.
Ankündigungsblatt des Verbandes der deutschen Kunstgewerbevereine,
HERAUSGEBER:
CARL VON LÜTZOW und ARTHUR PABST
WIEN
Heugasse 58.
KÖLN
Kaiser-Wilhelmsring 24.
Verlag von E. A. SEEMANN in LEIPZIG, Gartenstr. 15. Berlin: W. H. KÜHL, Jägerstr. 73.
Neue Folge. I. Jahrgang.
1889/90.
Nr. 9. 19. Dezember.
Die Kuiistehronik erscheint als Beiblatt zur „Zeitschrift für bildende Kunst" und zum „Kunstgewerbeblatt" monatlich dreimal, in den
Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der „Zeit-
schrift für bildende Kunst" erhalten die Kunstchronik gratis. — Inserate, ä 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Ver-
lagshandluiig die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
VOM CHRISTMARKTE.
IL
onderbare Leute, die
Poeten: manche
von ihnen sind bei
Lebzeiten schon
lange tot und an-
dere leben erst auf,
wenn sie gestorben
sind. Hamerling
z. B. war nie leben-
diger, als wie er
den schilderungs-
frohen Mund für
immer schloss.
Eine seiner epi-
schen Dichtungen
ist neuerdings durch
den Verleger ge-
adelt worden durch
Veranstaltung einer
Prachtausgabe: es ist der König von Sion, das glän-
zende Gegenstück zum Ahasver. A. von Ttocsslcr und
Hennann Dietrichs sind die Auserwählten, welche für
den Staat des Königs von Sion zu sorgen haben.
Übrigens ist das Werk erst in den Anfängen und inso-
fern für den Christmarktbericht noch nicht reif. Von
den angekündigten 35 Lieferungen liegen erst zwei
vor, die in dem Stil der Prachtausgabe des Ahasver,
welche vor einigen Jahren erschien, ausgeführt sind.
AVir werden daher später auf das Epos in Folio zai-
Initial aus dem König von Sion
von II. Hamerling.
rückkommen, wenn es in der Ausgestaltung weiter
fortgeschritten ist.
Von der erborgten Majestät des Königs von
Sion fällt unser Blick auf das Erzeugnis der wirk-
lichen Majestät, welche unter dem Kamen Carmen
Sylva zugleich als Dichterin und Königin auf der
Menschheit Höhen wohnt. Es ist eine allegorische
Märchendichtung, Leidens Erdengang betitelt, die
uns mit Bilderschmuck von Anna Marie Elias (Berlin,
Ao Duncker) dargeboten wird. Ein eigentümliches
Spiel mit Ideen und Begriffen ist in dem Buche
niedergelegt, und für eine Dichtung scheint es uns zu
gedankenkühl zu sein. Kampf, Leben, Tod, Leiden,
Geduld, Arbeit, Mut, Glück, Verzweiflung, Wahr-
heit, Lüge, Unschuld, Frieden, alles wird personi-
fizirt und spielt seine Rolle in dem Buche, sogar
die Frage, die, wie folgt, charakterisirt wird: „Eine
kleine Person mit aufgestülptem Naschen, hellen,
grossen, etwas vorstehenden Augen, die nur nach
aussen schauen und halb geöffneten Lippen, als
hätten sie eben etwas gesagt". Der Inhalt des
Ganzen ist sehr sinnreich, wohl zu sinnreich, er-
dacht, mehr als erdichtet, ja ausgeklügelt. Man hat
am Schluss nicht recht die Empfindung, eine Dich-
tung genossen zu haben, sondern etwa die, der geist-
reichen Lösung einer schwierigen Aufgabe zugesehen
zu haben. Diese wenig greifbaren, unseelischen Fi-
guren stellt nun A. M. Elias grau in grau dar. Sie
sagen uns ebensowenig Menschliches wie das Buch
und scheinen wie aus Eis gebaut. Nur da, wo wir
der Mission des Leidens bei den Menschen begegnen,
fühlen wir uns erwärmt und dort gewinnen auch die
Gestalten der Zeichnerin mehr Blut und Fleisch.
WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE.
Ankündigungsblatt des Verbandes der deutschen Kunstgewerbevereine,
HERAUSGEBER:
CARL VON LÜTZOW und ARTHUR PABST
WIEN
Heugasse 58.
KÖLN
Kaiser-Wilhelmsring 24.
Verlag von E. A. SEEMANN in LEIPZIG, Gartenstr. 15. Berlin: W. H. KÜHL, Jägerstr. 73.
Neue Folge. I. Jahrgang.
1889/90.
Nr. 9. 19. Dezember.
Die Kuiistehronik erscheint als Beiblatt zur „Zeitschrift für bildende Kunst" und zum „Kunstgewerbeblatt" monatlich dreimal, in den
Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der „Zeit-
schrift für bildende Kunst" erhalten die Kunstchronik gratis. — Inserate, ä 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Ver-
lagshandluiig die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.
VOM CHRISTMARKTE.
IL
onderbare Leute, die
Poeten: manche
von ihnen sind bei
Lebzeiten schon
lange tot und an-
dere leben erst auf,
wenn sie gestorben
sind. Hamerling
z. B. war nie leben-
diger, als wie er
den schilderungs-
frohen Mund für
immer schloss.
Eine seiner epi-
schen Dichtungen
ist neuerdings durch
den Verleger ge-
adelt worden durch
Veranstaltung einer
Prachtausgabe: es ist der König von Sion, das glän-
zende Gegenstück zum Ahasver. A. von Ttocsslcr und
Hennann Dietrichs sind die Auserwählten, welche für
den Staat des Königs von Sion zu sorgen haben.
Übrigens ist das Werk erst in den Anfängen und inso-
fern für den Christmarktbericht noch nicht reif. Von
den angekündigten 35 Lieferungen liegen erst zwei
vor, die in dem Stil der Prachtausgabe des Ahasver,
welche vor einigen Jahren erschien, ausgeführt sind.
AVir werden daher später auf das Epos in Folio zai-
Initial aus dem König von Sion
von II. Hamerling.
rückkommen, wenn es in der Ausgestaltung weiter
fortgeschritten ist.
Von der erborgten Majestät des Königs von
Sion fällt unser Blick auf das Erzeugnis der wirk-
lichen Majestät, welche unter dem Kamen Carmen
Sylva zugleich als Dichterin und Königin auf der
Menschheit Höhen wohnt. Es ist eine allegorische
Märchendichtung, Leidens Erdengang betitelt, die
uns mit Bilderschmuck von Anna Marie Elias (Berlin,
Ao Duncker) dargeboten wird. Ein eigentümliches
Spiel mit Ideen und Begriffen ist in dem Buche
niedergelegt, und für eine Dichtung scheint es uns zu
gedankenkühl zu sein. Kampf, Leben, Tod, Leiden,
Geduld, Arbeit, Mut, Glück, Verzweiflung, Wahr-
heit, Lüge, Unschuld, Frieden, alles wird personi-
fizirt und spielt seine Rolle in dem Buche, sogar
die Frage, die, wie folgt, charakterisirt wird: „Eine
kleine Person mit aufgestülptem Naschen, hellen,
grossen, etwas vorstehenden Augen, die nur nach
aussen schauen und halb geöffneten Lippen, als
hätten sie eben etwas gesagt". Der Inhalt des
Ganzen ist sehr sinnreich, wohl zu sinnreich, er-
dacht, mehr als erdichtet, ja ausgeklügelt. Man hat
am Schluss nicht recht die Empfindung, eine Dich-
tung genossen zu haben, sondern etwa die, der geist-
reichen Lösung einer schwierigen Aufgabe zugesehen
zu haben. Diese wenig greifbaren, unseelischen Fi-
guren stellt nun A. M. Elias grau in grau dar. Sie
sagen uns ebensowenig Menschliches wie das Buch
und scheinen wie aus Eis gebaut. Nur da, wo wir
der Mission des Leidens bei den Menschen begegnen,
fühlen wir uns erwärmt und dort gewinnen auch die
Gestalten der Zeichnerin mehr Blut und Fleisch.