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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 1.1889/​90

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Necker, Moritz: Hans Schliessmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.3772#0214

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Hans Schliessmann.

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eine neue Nummer des „Figaro" neugierig machen,
politisch hat er schon längs aufgehört, eine Rolle
zu spielen.

Was nun Schliessmanns künstlerische Persön-
lichkeit charakterisirt ist dies: er ist wesentlich nicht
Satiriker, sondern heiterer Beobachter; er verzerrt
zumeist gar nicht, sondern porträtirt; er hat die
Fähigkeit, die flüchtigstenErscheinungen festzuhalten,
so dass man sie freudig überrascht festgehalten sieht,
und die andere Fähigkeit, typische Figuren aus der
sich drängenden Fülle des grossstädtischen Lebens
herauszugreifen, so
dass jeder "Wiener
ruft: Aha, den kenn
ich! Er zeichnet nur
den Umriss, verwen-
det mit äusserster
Sparsamkeit Schraf-
firung; aber die zarte
Linie sitzt mit mathe-
matischer Sicherheit,
weicht nicht um
Haaresbreite ab von
der Natur und er-
scheint so leicht hin-
gezeichnet, als wäre
sie mit dem ersten
Strich richtig ange-
setzt worden. Diese
reine Freude bloss
an der charakteristi-
schen Wirklichkeit,
die zumeist absolute
Tendenzlosigkeit der
Bilder, giebt uns das
Gefühl eines behagli-
chen, lebensfreudigen,
wohlwollend lächelnden, gemütvollen Menschen,
dessen scharfes Auge nicht zum bösen Auge
wird. Schliessmann schaut überall hinein: in die
Familienstube, in die Werkstatt, in die Polizei-
bureaus, in die Kasernen, in die Konzertsäle, in die
Wohnungen des Elends, in die Wärmstuben, in die
Räume der Lust, in die Balllokale; sein Blick ruht
auf allen Strassenerscheinungen der Grossstadt: auf
den Tramways, auf den Fiakern, auf den Sicherheits-
wachmännern, auf den Strassenkehrern, auf den
„Gigerln", auf der Demimonde u. s. w. Der ganze
bunte Reichtum Wiener Lebens entfaltet sich in
seinen Zeichnungen vor uns. Er erhebt sich nicht,
wie z. B, Oberländer, in seinem Humor ins allge-

Aus dem „Schliessmann-Album", Verlag von E. Waldheim in Wien.

mein Menschliche hinaus; Schliessmann bleibt im Be-
reiche des spezifisch Wienerischen, dessen Lokal-
chronist er ist. In diesem streng umschlossenen Be-
zirke aber bewegt er sich mit künstlerischer Freiheit.
So klein seine Bildchen sind, so sicher sind sie in
ihren Maassen; die besten zeichnen sich durch eine
merkwürdige Bestimmtheit in der Zeichnung des
Körpers und eine überraschende Feinheit, mit der
auch die flüchtigste Bewegung z. B. von Tanzenden
festgehalten ist. Der nahen Gefahr, in Manier zu
geraten, ist Schliessmann noch immer entgangen. Er

wiederholt sich zwar
zuweilen in seinen
Bildchen, wie das
nicht anders bei un-
unterbrochener Pro-
duktion auf Kom-
mando für ein Wo-
chenblatt möglich
ist; aber auf seinen
grossen Blättern, wie
z. B. auf der in der
Leipziger illustrirten
Zeitung veröffent-
lichten „Burgmusik",
einem Blatt mit viel-
leicht hundert Figu-
ren, weist er eine
beinahe unerschöpf-
liche Fülle von Typen
auf. Seine Lieblinge
sind die eigentlichen
Volksfiguren: das
Wäschermädel, der
„Pülger", der Kut-
scher, der Wach-
mann, der Hand-
werker, der Stammgast, der Fleischhauer. Dabei ist
es merkwürdig, dass ihm die Männertypen ungleich
besser als die der Wiener Frauen gelingen. Eine andere
charakteristische Eigentümlichkeit seiner Kunst sind
die Cyklen; so z. B. im vorliegenden „Album" die
lustige Kaffeehausgeschichte, das durstige Quartett,
oder die auf einem Blatt zusammengestellten Kutscher-
studien, Gigerltypen u. dergl. Eine andere Schliess-
mannsche „Spezialität" sind die Musikerbilder, wie
das im Album abgedruckte Bülow-Blatt, das uns
den berühmten selbstbewussten Dirigenten in neun
Momenten während einer Symphonieaufführung vor
Augen stellt: liebenswürdig spöttisch, oder der in
der letzten Nummer des Jahres 1889 der „Fliegenden
 
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