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Kunstwart und Kulturwart — 34,1.1920-1921

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1920)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Beethoven: zum 15. Dezember
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https://doi.org/10.11588/diglit.14432#0161

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Beethoven

Zum 15. Dezcmbec

vor anderthalb Iahrhunderten geboren ward, hat auf den höchsten
/ Ööhenzügen der Menschheitgeschichte gelebt und geschaffen. Größte sroff--
nungen haben Europa kurz nach Beethovens Geburt beslügelt und auch
ihn noch durchzittert. Zwei Umwälzungen, so groß fast wie die Weltkriegs--
folgen, vollzogen sich. Die französische Revolution warf die Ideale der Frei--
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit jubelnd in die Morgenluft eines neuen
Völkertags. Napoleons Heere trugen sie in die europäischen Länder, schon
angekränkelt und zersetzt. Dann haben sie wie Irrlichter über dem Gewoge
der Stände, Klassen, Stämme, Völker geflackert, bald scheinbar verschwunden,
bald wieder lockend hell, bis sie im Sturm des Weltkrieges erloschen.
Wir wenden den Blick ein zweites Mal zurück und gewahren zu Beet--
hovens Iugendzeit einen seltsam reisen und gespannten Kulturzustand.
Europa hatte sich bereichert, es hatte sich zivilisiert durch Raub. Durch
Raub der Schätzs und der lebendigen Kräfte aus drei Erdteilen, durch
Raubbau auch an seinem wertvollsten Gut, den Wäldern. Nun waren die
Kolonien der Auspumpung nahe, war der Holzvorrat nahezu erschöpft,
war die erste Kulturdämmerung Europas da. Noch aber atmete alles im
Licht. Die furchtbare Seuchennot des Mittelalters war ihrer schlimmsten
Schrecken entkleidet. Die durchschnittliche Arbeitslast des Einzelnen, wenn--
gleich gesteigert gegen das Mittelalter, ließ dennoch mehr Kräfte frei, als
der gepriesene Achtstundentag von heute. Etwas wie reife Sattheit erfüllte
dis führeuden Schichten nicht nur Englands und Hollands, auch mancher
Striche der anderen Länder. Wohl hatte im Lauf der letzten drei Iahrhun--
derte dieses und jenes bedenkliche Zeichen einen Zeitenwandel angekündigt.
Die lebendige „Gemeinschaft" mittelalterlicher Tage wich zusehends der ver--
sachlichten, verbürgerlichten, proletarisierten „Gesellschast", die Mechanisie--
rung setzte ein. Aber all das hinderte nicht, daß eine gewisse Kultur--
blüte aufgebrochen war. Das Gespenst der Not wich auch noch einmal. Kohle
und Eisen ersetzten, Zehnfaches leistend, das Holz, neue Maschinen traten
an die Stelle alter Manufakturen, die geistig und politisch entfesselten
Kräfte ehedem unterdrückter Schichten warfen sich erfinderisch, tätig, uner--
müdlich auf die wirtschaftliche und kultürliche Arbeit, die Massen der Völker
wuchsen in hundert Iahren in nie dagewesenem Tempo, ein einzigartiger,
schlechthin unvergleichbarer Reichtum an Stätten mechanischer Arbeit, an
Maschinen. Geräten, Werkzeugen, Bauten, Luxuswaren, Gebrauchwaren
und Ausfuhrwaren überfüllte das Land, und ihm wie der Masse der Be--
völkerung entsprach die unabsehbare Fülle der Bücher, Bilder, Musik--
werke, Zeitungen, Zeitschriften, Aufführungen, Bildungsstätten, Vereine,
Organisationen.

Und neben der äußeren Entwickkung lies eine innere: die Mechanisierung
vollendets sich, die Völker zerfielen in Klassen, in Klassenkämpfe, die Ar<-
beitszeit stieg bis zum Verrückten, der satte Wohlstand wich frechem Äber--
maß, die Proletarisierung ergriff die neugeborenen Millionen schon in der
Kindheit, auf Revolutionen folgten Reaktionen, die Völker erstritten sich
Nationalstaaten, aber in den kaum erstrittenen wütete der innere Kampf,
Kronen sanken und Armeen verbluteten, Reichtümer wurden vernichtet, in
einem einzigen Lande mehr als um s800 ganz Europa besessen hatte.
Genug und zuviel! Der Blick, den wir zurücksandten, schweift übsr ein

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