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Bölling, Jörg; Jan Thorbecke Verlag [Hrsg.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Zwischen Regnum und Sacerdotium: Historiographie, Hagiographie und Liturgie der Petrus-Patrozinien im Sachsen der Salierzeit (1024-1125) — Mittelalter-Forschungen, Band 52: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51257#0016

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Regnum und Sacerdotium. Forschungsstand und offene Fragen

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sonderes Interesse findet dabei immer wieder die Frage nach der Bedeutung des
Canossa-Gangs Heinrichs IV. von 1077, vor allem seit jenen tagespolitischen
Auseinandersetzungen im Kulturkampf, bei denen der deutsche Reichskanzler
Otto von Bismarck in vermeintlicher Nachfolge kaisertreuer Vorgänger des
Hochmittelalters seinen berühmten Ausspruch prägte: „Nach Kanossa gehen
wir nicht, weder körperlich noch geistig".* * * * 5 Bis heute wirken ältere „Meisterer-
zählungen" nach, die im Investiturstreit die Anfänge des modernen National-
staats sehen.6 Weiterhin strittig ist die Frage, inwieweit die moderne Trennung
von Staat und Kirche in den Auseinandersetzungen zwischen Regnum und
Sacerdotium ihren Anfang genommen haben.7
Drei Aspekte verdienen hier eine eingehendere Untersuchung: das Phäno-
men der Sakralität, die Relevanz einzelner Regionen, schließlich die hierfür neu
zu sichtende und erweiternd zu eruierende Quellengrundlage.
Für die akutelle Frage nach der „Sakralität der Person" (Hans Joas) eignet
sich das Mittelalter angesichts der Fragwürdigkeit der älteren Säkularisie-
rungsthese kaum als Konstrastfolie.8 Stattdessen gilt es, die Formen von Sakra-

schungsliteratur zum Verhältnis von Regnum und Sacerdotium bis 2007 bietet zudem Melve,
Inventing the Public Sphere, S. 32-43. Die neuesten diesbezüglichen Forschungstendenzen re-
sümiert mit eigenen Anregungen Steckel, Säkularisierung, und dies., Differenzierung jenseits der
Moderne, pass., hier v. a. S. 314-339.
5 VgL dazu Klenke, Bismarck, S. 613; Pape, Canossa, S. 202 mit Anm. 95; Brechenmacher, Wieviel
Gegenwart. Zu den Ereignissen in Canossa 1077 selbst s. einerseits Weinfurter, Canossa;
Schneidmüller, Canossa; Vogel, Gregor VII. und Heinrich IV. nach Canossa; Stiegemann (Hg.),
Canossa; Hasberg/Scheidgen (Hgg.), Canossa; Weinfurter, Canossa als Chiffre; Hack, Emp-
fangszeremoniell, S. 493-502; Zimmermann, Canossa 1077; andererseits Fried, Der Pakt von Ca-
nossa, und ders., Canossa: Entlarvung einer Legende, mit Verweis auf ders., Der Schleier der
Erinnerung. Zu Frieds Auffassung, es habe sich in Canossa um ein vorab beidseitig vereinbartes
Friedensfest gehandelt, s. die einhellige Kritik verschiedener Rezensionen von Gerd Althoff,
Stefan Weinfurter, Claudia Zey, Matthias Becher, Hans-Werner Goetz, Ludger Körntgen und
Wilfried Hartmann sowie die Aufsätze von Patzold, Frieds Canossa, und zuletzt Althoff, Das
Amtsverständnis Gregors VII. S. zu dieser speziellen Frage auch unten Kapitel 1.4.
6 Zum Begriff der „Meistererzählung" s. Rexroth, Meistererzählungen, zur hier fraglichen The-
matik v. a. S. 16, gefolgt von Körntgen, Der Investiturstreit, S. 94 mit Anm. 15. Zum Problem
teleologischer Perspektiven und Darstellungweisen allgemein s. bereits Esch, Zeitlalter und
Menschenalter, S. 317-330.
7 Den Investiturstreit und die Ereignisse in Canossa für diachron zentral erachten dabei u. a. der
Mediävist Stefan Weinfurter, Canossa, der Jurist Emst Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung
des Staates, und der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität, während die
Mittelalterhistoriker Gerd Althoff, Libertas Ecclesiae, und Wilfrid Hartmann, Gregor VII. und
die Könige, die Auseinandersetzungen zwischen Regnum und Sacerdotium im 11. Jahrhundert
noch nicht als den Anfang einer allmählichen „Differenzierung zwischen Religion und Politik"
begreifen; vgl. Pollack, Die Genese der westlichen Moderne, S. 278-281, ferner S. 295-303 („Die
Scheidung von sacerdotium und regnum“). Kritisch gegenüber der These von der „Entzauberung
der Welt" 1077 in Canossa äußern sich auch Hoffmann, Canossa, S. 544-556 sowie Körntgen, Der
Investiturstreit, S. 91 mit Anm. 6 (Lit.) und S. 94f. (mit Kritik an Joas, Gesellschaft, Staat und
Religion, S. 13-19, sowie an Joas, Die Sakralität der Person, S. 16 f.), freilich ohne dabei Frieds
neueren Thesen zuzustimmen (vgl. oben Annm. 5).
8 Vgl. Joas, Die Sakralität der Person, in Frage gestellt von Körntgen, Der Investiturstreit, S. 95,
Anm. 16.
 
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