Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 8.1904

DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:
Kromer, Heinrich Ernst: Die Kunst der Alemannen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.19988#0088

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Kunst der Alemaunen.

unter den Lchweizer Zennen; selbst deren blechernes
und meckerudes Gelächter ist naturalistisch echt.
Den Aristokratentyp, der in seiuen Helden so be-
wunderungswürdig hervortritt, entnahm der Aünstler
seiner eigenen Gestalt. Böcklin erklärt selbst, —
uud beweist damit, wie realistisch er vorgeht —>
daß es ihm ost schwer wurde, von den Propor-
tioneu des eigenen Lörpers abzusehen, wenn es
stch um die Darstellung von Gestalten urit anderen
Verhältnissen — z. B. Petrarcas — handelte.
Lndlich die Landschaft: Lie ist in all ihrer Harben-
pracht in Böcklins Heimat zu stnden, iu Basel,
besonders bei Köhnwetter; daß die italienische,
auch wo er sie komponierend abändert, durchaus
der Ratur abgelauscht ist, selbst das sarbenprächtige
getigerte LAeer, das weiß jeder, der osfenen Auges
die toskanische Landschast und das Tyrrhenische
Neer geschaut hat. — Bei Gonr. Herdinand Llteyer
möchten die Renaissancegestalten auf den ersten
Blick täuschen; es ist aber kein Zweifel, daß sie,
der starken Physis des Dichters entstammend, keiu
Vorbild in unserer dünnseligen Tegenwart sanden
und sich dieses darum in der Vergangeuheit suchten,
in der Vergangenheit, die in der Historie sestgelegt
war und die Lxistenzmöglichkeit solcher Gestalten
verbürgte. Lxistenzmöglichkeit ist aber in der Aunst
durchaus gleichwertig mit Lxistenz selber und ist
als solche Dbjekt, ros uuturu. Iakob Burckhardt
steht in dieser Hinsicht neben Aleyer: seine An-
erkennung und Verehrung alles Tatsächlichen ist
so groß und so echt, daß er selbst bei den Ver-
brechen, welche die ganze Aultur der Renaissance
begleiten, seine Zchilderung bis zur bloßen Bericht-
erstattung herabnüchtert und nirgeud sich eines
moralischen (oder gar moralistischen) iAäntelchens
noch eines sentimentalen Lränenschnupstuchs bedient.
Nan weiß, was dieser Nann einem Nietzsche war;
man ermißt auch, was der Realismus seiner
Lchilderung sür das Verständnis jener Lpoche uns
gelten muß...

Nan wird diese selbe Lrscheinung mehr oder
minder leicht bei allen alemannischen Aünstleru
sinden: die Ramen Hodler, Zandreuter, Thoma,
Ltäbli, Röderstein, Hebel, Lienert, Gotthels erwecken
alle die Vorstellung tüchtiger Realisten und so kühler
wie starker Naturbeobachter; hier setzt aber auch
zugleich das andere Lharakteristikum alemannischer
Aunst ein: Aunst im wcitesten Umsang verstanden.

Ls ist erklärlich, ja ganz natürlich, daß sich bei
einem Volke, das iu einem harten Rampse mit
einer kargenden Ratur liegt, jener Linn zuerst
entwickelt/ der in diesem Ramps am meisten ange-
strengt wird. 2m ganzen genommen ist dies der
praktische; sein Werkzeug, das dabei die Mnge zu
prüsen und zu messen hat, das Auge! A)as es
sieht, glaubt es; und was es vorderhand zu glauben
hat, dessen Zweck geht sürs erste nicht über das
Notwendige und Nützliche hinaus: das Überslüssige
hat noch keinen Zinn.

Aus die Aunst angewandt, muß, wie bereits
angedeutet, zuerst der praktische, der nötige, der

nützliche, der kontrolierende und kontrolierbare
Linn zum Ausdruck kommen; der Rausch, der zur
Nunst jeder Art unerläßlich ist, wird in diesem
§alle das Auge ergreisen; es ist ein Rausch der
Hreude am Naß, am Llleßbaren und Lichtbaren.
Der das Überslüssige, das Übermaß der Physts,
das Überquellende zur Grundlage hätte, dieser
Rausch ist nicht vorhanden. Die Aunst dieses
Volkes wird apollinisch werden; die dionysische ist
bei ihm nicht möglich. Vder noch nicht möglich.
Dies ist bei den Alemannen der Kall. Liner im
Verhältnis zur Bevölkerung recht großen Zahl
tüchtigster Naler uud epischer Poeten stehen keine
Vramatiker, keine iNusiker, keine Zchauspieler und
Tänzer, keine Lyriker — wenigstens keine spezisische
und starke Lyriker — gegenüber. LNeyers, Aellers,
Lpittelers, Hebels Gedichte widerlegen diese Behaup-
tung uicht; sie beweisen sie. Das tiesste Noment
der Lyrik, das Lrotische, sehlt ihnen allen im
Grunde. Bei Aeller tritt die Naturschilderung an
dessen Ltelle, bei Zpitteler und Aleyer das Balladische
und das abgekühlte Gleichnis, bei Hebel die Idyllik,
im besten Halle vergoldet durch heiteren Humor.
Ver apollinische Rausch ist vorhanden und tut seine
Wirkung; der dionysische wird nicht erreicht, oder
aber, wo er etwa vorhanden gewesen, durch deu
überwiegenden Zinn sür Naß, Vernunst und NArk-
lichkeit herabernüchtert bis zum apollinischen. And
doch — einen Lyriker haben sie: Aarl Ztauffer!
ZNerkwürdig genug! Aber seine Lyrik tritt doch
überhaupt erst da aus, wo ihn die Lrkenntnis
unabwendbarer Tragik zur hohen Beredsamkeit
des eigensinnigen starrköpsigen Üpsers, zum Gesühls-
überschwang des Zchicksalsgeweihten hinreißt.

Anläuse zum Drama könnte man erblicken in
Neyers letzten historischen Novellen und in Apitte-
lers sog. „Darstelluug": „Lonrad der Leutnant".
Beide Dichter wurden indes entweder sich ihrer
epischeu Trundaulage rechtzeitig wieder bewußt,
oder aber der Rausch des Tragischen, oder der
LNacht, oder des Willens zur Nacht schien ihnen,
woseru er wirklich ansetzte, nicht stark genug zur
blinden Herbeiführung der Nonsequenzen, oder dicse
selber so großer Npser nicht würdig, nicht einmal
ästhetischer Vpser. Auch mochte der republikanische
Geist, der als solcher ein s)rodukt praktischer Lr-
wäguugen ist, mehr einem versöhnlichen Paktieren
und Parlamentieren geneigt sein als der Lntscheidung
eines individuellen starken willens, der keine
Aompromisse kennt.

Der LNangel an dionysischen Lmpfindungeu und
daraus entspringender dionystscher Runst mag bei
diesem volksstamme aus klimatischen und politischen
Ursachen entsprungen sein. Line immer aus den
Lrwerb des Nützlicheu und Notwendigen eingestellte
wird kaum je Überschüsse, kaum je ein
Übermaß des Willens erzeugen, der zur Betätigung,
zu stürmischer Lntladung hindrängte. Ver Leib
ist ungelenk und verschmäht jeden Ausdruck von
Lmpfindungen, die ihn in allen seinen Teilen als
Ganzes in Rausch versetzen und bewegen könnten.

336
 
Annotationen