Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

DOI issue:
Achtes Heft
DOI article:
Schreyer, Lothar: Die neue Kunst, [4]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0130

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Jedes Bühnenwerk hat seinen Rhythmus.
Der Rhythmus gestaltet das Gesicht mit den
Kunstmitteln. Die Farbform erscheint im
Raum als rhythmische Linie und rhythmi-
sche Fläche. Der Ten erscheint als Woit-
ton, Musikton, Geräuschton. Das Bühnen-
werk kann gegenständlich und ungegenständ-
lich sein. Gegenständlich ist es, wenn der
Bühnenkünstler eine außerhalb seines Ge-
sichts entstandene Farbformreihe, Wort-
reihe, Worttonreihe, Musktonreihe, Ge-
räuschtonreihe, Bewegungsreihe als wesent-
liches Ausdrucksmittel für die Gestalt sei-
nes Gesichts benutzt. Ausdrucksm ttel des
Bühnenwerkes kann also das Wortwerk
eines Dichters sein.
Die Gestalt des Bühnenwerkes ist der Spiel-
gang des Bühnenwerkes. Der Maler schafft
ein Bild, der Tonkünstler eine Partitur. Ich
habe das Bühnenwerk in dem Spielgang ge-
staltet. Im Spielgang ist die Gestalt des
Bühnenwerkes ebenso spielbar gekündet,
wie in der Partitur das Tonwerk spielbar
gekündet ist. Nach dem Spielgang wird das
Bühnenwerk gespielt. Das Spiel ist keine
Aufführung. Das Spiel ist die Ausführung
des Spielgangs. Ausgeführt wird es von
Menschen. Die Farbform führt ein Mensch
aus, ebenso den Ton und die Bewegung. Die
verschiedenen Spiele des gleichen Bühnen-
werkes unterscheiden sich durch die Inten-
sität der Ausführung, die abhängig ist von
dem Spieler, dem Menschen. Das Spiel wird
geleitet von einem Spielleiter, der der erste
Spieler des Spiels ist, aber in der Ausfüh-
rung selbst weder Farbformträger noch Ton-
träger noch Bewegungsträger ist.
M t der Schöpfung des Bühnenwerkes ist die
völlige Abkehr vom Theaterwerk und von
der sogenannten dramatischen Dichtung voll-
zogen. Das Bühnenwerk ist der erste Vor-
stoß gegen den sogenannten Kulturfaktor
Theater, der ein Denkmal der nichtkünst-
lerischen Zeit, ein Genußm ttel der verderb-
ten hohen und niederen Gesellschaft ist.
Meine ersten Bühnenwerke heißen ,,Nacht",
,,Mann", ,,Sehnte". Mein erstes gegenständ-
liches Bühnenwerk hat das Gedicht ,,Sancta
Susanna" von August Stramm als Kunst-
mittel. Das Bühnenwerk ,,Sancta Susanna"
ist zuerst von der Sturmbühne in Berlin ge-
spielt.

Der Künstler schafft seine Werke nicht, da-
mit sie irgend jemand erlebt. Wie die Blu-
me nicht wächst, damit sie irgend jemand
sieht, riecht, pflückt. Die Blume kündet ein
Lebend ges. Das Kunstwerk kündet ein Le-
bendiges, das Gesicht. Menschen sind als
Erscheinungen unter Erscheinungen. Leben
ist Leiden der Erscheinungen. Alle Men-
schen finden Le den, ohne sie zu suchen.
Menschen finden sich, ohne sich zu suchen.
Der Mensch sucht Nichtleiden. Der Mensch
findet Nichtleiden, wenn er sich nicht mehr
findet.
Der Mensch findet Kunstwerke, ohne sie zu
suchen. Unmenschliches kündet das Kunst-
werk. Keinem kündet das Kunstwerk. Allen
kündet das Kunstwerk.
Wir nehmen der Welt d e Beschäftigung mit
Kunstwerken. Wir geben der Welt das
Schaffen der Kunstwerke. Wir haben Ge-
sichte, Alle Menschen werden Gesichte
haben. Wir gestalten Gesichte. Die Welt,
d e keine Gesichte hat, macht uns verant-
wortlich für ihren Zusammenbruch. Die
Menschen der Gegenwart trennt das Ge-
schick der Weltwende. Wir erleiden den
Aufbau. Die anderen erleiden den Zusam-
menbruch, Die anderen leben in der Oeffent-
lichkeit. Wir leben in der Innerlichkeit.
Darum reden wir aneinander vorbe', wenn
wir von Gemeinschaftsgefühlen reden. Die
anderen meinen eine äußere Gemeinschafts-
ordnung. Wir meinen eine innere Gemein-
schaft, die uns alle zur Einheit macht. Dar-
um die fanatische Feindschaft unserer Geg-
ner, die vor keinem M ttel zurückschrecken,
uns unschädlich zu machen. Daher der
ekstatische Zusammenschluß der Unseren
um unsre Erkenntnis. Wir sind so welt-
fremd, daß wir unser Reich ohne Publ kum
und Presse bauen. Das Publikum ist die
Oeffentlichkeit und die Presse ihre St'mme,
Das Publikum wird versinken mit der alten
Welt. Und die Presse d'eses Publikums
auch. Das ist keine Prophezeiung. Das ist
Tatsache. So wahr Menschen sterben. So
wahr jetzt eine Welt st'rbt.
Der Mensch muß auf alles verzichten, was er
für das Wahre, Gute und Schöne hält. Er
muß erkennen, daß es nicht gibt, was er
glaubt. Er muß verlernen und vergessen. Er
muß sich vergessen. Das ist die Lehre. Wer
ihr folgt, der empfängt die Kunstwerke, In
 
Annotationen