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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Heft 1
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Schwitters, Kurt: Anregungen zur Erlangung einer Systemschrift
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0018

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Anregungen zur Erlangung einer Systemschrift
Kurt Schwitters

Eigentlich ist eine Systemschrift nur ein Teil-
problem innerhalb eines großen Komplexes,
der unter anderem Systemsprache und
systematisches Denken umfaßt. Aber das
sind Aussichten in eine weit entfernt liegende
Zukunft, und bevor es wirklich fertig vor
uns steht, kann kein Mensch sagen, ob es
eine Utopie ist oder nicht. Die System-
schrift aber ist keine Utopie, und ich möchte
eine Anregung geben, wie man sie er-
langen kann, und wie sie ungefähr aus-
sehen könnte.
Zunächst möchte ich den Einwand ent-
kräften, daß wir solange ohne Systemschrift
auskommen konnten, weshalb brauchen wir
jetzt eine. Ich möchte demgegenüber sogar
sagen, wir hätten sie schon einige Jahrzehnte
nötig gehabt, und vielleicht sogar schon
einige Jahrhunderte. Bestimmt ist aber in
einer Zeit, die sich gezwungen sieht, alles
zu normalisieren und in ein System zu
bringen, die von dem System allgemein eine
größere Präzision und Bewußtheit in der
Lebensführung erwartet und erreicht, eine
Schrift, die nur ornamental gestaltet ist, ein
Rest aus dem Mittelalter, der organisch nicht
mehr in die Zeit paßt. Es ist fast unerklär-
lich, daß dieselben Menschen, die heute schon
nicht mehr in der elegantesten Pferdedroschke
fahren mögen, eine Schrift benutzen, die
aus dem Mittelalter oder dem Altertum
stammt.
Denn unsere heutigen Schriften sind durch-
weg von der römischen Antiqua oder der
gothischen Fraktur abgeleitet, oder von
beiden. Sie sind wesentlich historisch, statt
wesentlich systematisch zu sein. Alle Ver-
suche, zu neuer Schrift zu gelangen, be-

schränken sich darauf: 1. die übernommenen
Buchstaben durch schöne Verzierungen zu
verzieren, 2. durch Vereinfachung und Fort-
lassen alles Entbehrlichen zu der wesent-
lichen Form des Buchstaben zu gelangen,
also die geschichtlich gewordene Quer-
summe zu ziehen, 3. durch Abwägen der
Verhältnisse zu einer neuen, eleganten oder
lebendigen Form zu gelangen. Je nach Ver-
anlagung des Gestalters wurde mehr das
eine oder andere Ziel oder mehrere Ziele
erreicht. Wir haben eine Fülle von Schriften,
aber alle sind historisch, keine ist syste-
malisch. Wer aber würde heute den Ehrgeiz
haben, ein Auto in seiner äußeren Form
von der Form einer Droschke oder gar
einer Sänfte direkt abzuleiten?
Um nun zu einer systematischen Gestaltung
zu gelangen, muß man zuerst untersuchen,
was Schrift ist. Schrift ist das nieder-
geschriebene Bild der Sprache, das Bild
eines Klanges. Sie sehen, daß uns hier die
Untersuchung weiterführi zur Untersuchung
der Sprache, aber es ist nicht unbedingt
erforderlich, wenn man die Aufgabe sich so
stellt, daß man nur das systematisch voll-
endete Mittel zu erlangen sucht, um bestehende
Sprachen bildhaft auszudrücken. Wie auch
immer die zu vermittelnde, zu übersetzende
Sprache ist, die Schrift muß optophonetisch
sein, wenu sie systematisch gestaltet sein will.
Systemschrift verlangt, daß das ganze Bild
der Schrift dem ganzen Klang der Sprache
entspricht, und nicht, daß hier und da ein-
mal ein Buchstabe mehr oder weniger dem
durch ihn dargestellten Laut entspricht, wenn
er einzeln aus dem Klang herausgenommen
werden würde.

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