Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

DOI Heft:
Heft 9
DOI Artikel:
Heinar, Kurt: Nachtlese: Der Psycho-annaliese ind Freud-volle Traumbuch
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0140

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nachtlese
Der Psycho-annaliese ins Freud-volle Traumbuch

Kurt Heinar
I '
Hinter dem geschlossenen Fenster einer im
Erdgeschoß gelegenen Wohnung saßen stumm
und steinern ein Löwe, ein Tiger und ein
Hund. Gleichgültig und kalt waren ihre
Blicke auf die verloschen gegenüberliegende
Häuserfront gerichtet. Mein Weg nun führte
an ihnen vorbei. Und ob des merkwürdigen
und ungewöhnlichen Bildes blieb ich erstaunt
stehen. Drei leidenschaftslos und überlegen
forschende Augenpaare trafen für wenige
Sekunden meinen Blick, glitten ohne Neugier
von mir ab oder sahen vielmehr nicht-
achtend durch mich hindurch. Von der fast
erhabenen, seltsam-unheimlichen Würde und
Gelassenheit dieser Tiere wunderlich berührt,
sah ich mich einen Stock drohend-spielerisch
in gerader Linie von unten nach oben be-
wegen und, den noch immer geradeaus
blickenden Augen nahe gekommen, kurz
und hart gegen die Scheibe schlagen, was
ein dumpfes Klirren hervorrief. Gemächlich
und ohne Wut — als hätten sie das Ereignis
vorausgesehen — richteten sich Löwe, Tiger
und Hund hoch auf und stemmten eine
ihrer mächtigen Tatzen kraftvoll gegen das
Fenster, das — ohne Fenster kreuz — von
einer unwahrscheinlichen Elastizität war: es
eab nach, dehnte sich weit, lief spitz nach
außen zu und drohte jeden Augenblick zu
zerreißen. Plötzlich von Furcht ergriffen, ent-
fernte ich mich langsam, ging bald schneller
und rannte schließlich atemlos in den ge-
räumigen Flur eines Hauses. Mann und
Frau waren ebenda sichtlich überrascht und

voller Pein betreten. Gewichtig warnte ich
sie vor Löwe, Tiger und Hund, nicht ohne
mich über ihre ungläubige Abwehr verletzt
zu verwundern. Irgendwo stieg ich sodann
eine Treppe hinauf, im Rücken den mit-
leidigen Blick vier wächsener Augen fühlend.
II
Das Vorwort zur ersten Auflage einer mir un-
bekannten zweibändigen deutschen Literatur-
geschichte enthielt folgenden Satz: „Bismarck,
mein treuer Schulkamerad früher Zeiten, gab
meinem Leben Inhalt und Sinn.“ Das Vor-
wort zur letzten Auflage desselben Werkes
aus dem Jahre 1919 schloß mit den Worten:
„Es lebe die gelungene Uebergesellschaftung!“
Der Verfasser war mir dem Namen nach
bekannt. Er nannte sich Ludwig Fulda.
III
Im Vorraum eines Lesesaals saß mir ein
älterer Herr gegenüber, zu dem ich aus
irgendeinem Grunde ganz unerwartet sagte:
„Wollen Herr Geheimrat gütigst verzeihen?“
„Unmöglich,“ erregte er sich, setzte jedoch
gleich darauf beruhigt hinzu: „Nun, lassen
wir das. Essen Sie eine Suppe mit mir!“
Während wir schweigend aus einem Teller
aßen, erschien über dem Haupt des Geheim-
rats in rot leuchtenden Buchstaben das
Wort: „Klassen-Kampf“. Schon im nächsten
Augenblick aber wurde es von den Worten:
„Kalte Küche“ abgelöst, die ebenfalls rot
leuchteten.

318
 
Annotationen