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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Heft 11/12
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Meissner, Rudolf: Nachtlied
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0170

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Nachtlied
Rudolf Meissner

Omnibus wackelt lustig durch das schon
schläfrig gewordene Licht, das die Bogen-
lampen fleißig auf die Straßen gießen. Glatter
Asphalt wirft den Frohmut der Auto-Schein-
werfer matt zurück. Berlins tausend Normal-
uhren melden zwei Uhr Nacht.
Ueber der Potsdamer Brücke hängt des Mondes
Viertel groß im Gezweig eines Baumes. Er sieht
wie eine rötliche Schale aus, und der Baum
wird wohl aus ihr trinken. Der Nachthimmel
hat eine wunde Farbe; denn das elektrische
Leuchten Berlins quält ihn.
Gugru steigt an der Potsdamer Brücke in den
Omnibus. Breit hockt Gugru im Polster der
Omnibus-Sitze und hüllt sich in das Gewackel
des Fahrens ein. Es ist wie eine Wiege für
traumsüchtige Kinder. Gugrus waches Denken
ertrinkt schon im Wellengang eines Schals
gegenüber. Steil über dem Schal in einem
häßlichen Denkmalsgesicht starrt ein Monokel.
Reflexe von Lichtern laufen über des Monokels
Fläche Schlittschuh. Gugru auch.
Kitschiger Goldstrahl des Messings schiebt
sich in Gugrus Schauen hinein. An der ge-
putzten Stange hält sich eine helle Frau fest
Sie sieht aus wie Lilian Gish. — Sie sieht
wahrscheinlich nicht aus wie Lilian Gish, aber
es ist nicht ihre Schuld, daß Gugru, wenn
ihm die Augen zufallen möchten, mit wunsch-
gesteigerten Augen sieht.
Da ließt jemand. Das Buch heißt: „Das ver-
trocknete Herz der Frau Kunigunde“. Die
neun Gesichter der neun Omnibus-Passagiere

sinken in Gugrus Blick hinein und schlüpfen
dann in das Buch vom vertrockneten Herzen.
Kunigunde vergiftet Lilian Gish, weil beide
den Bemonokelten lieben. Der Herr, der
dauernd in die Zeitung stiert, tritt mit der
Zeitung an Lilians Sarg heran und liest ihr die
letzte Theaterkritik vor. Schön ist der Sarg.
Kunigunde trägt ihr vertrocknetes Herz in der
Mondschale als Kleinod durch den Friedhof
Weinend versenkt sie es in Lilians Grab.
Die Handbewegung eines Freundes zerbricht
plastisch das Schattenspiel. „Gugru, wo warst
du denn heute wieder?“ neigt sich eine Stimme.
„Gugru, du siehst schlecht aus. Du trinkst
in den Restaurants zu viel starken Tee spät
nachts.“
Dann sagt Gugru: „Du, ich bleibe im Omnibus
sitzen, bis wir auf Madagaskar sind. Das ist
die Endstation. Auf Madagaskar haben die
Bäume durchsichtige Früchte.“
Fein lächelt Gugru. Sein Freund weiß ja, daß
er nicht verrückt ist. Nur zu sensibel. Vom
vielen Teetrinken.
Der Omnibus setzt die letzten Fahrgäste im
Vorort ab. Ueber die Allee hinweg zielen zur
Milchstraße hin die Telegraphendrähte. Die
Sterne der Leier balancieren darauf.
Gugru nimmt den Freund am Arm und
sagt: „Ob die Bäume der Allee je ganz wach
sind?“ —
Fort wackelt der leere Omnibus.
 
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