Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

DOI Heft:
Heft 11/12
DOI Artikel:
Vogt, Karl Anton: Raumsturz des Sprechens
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0192

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Raumsturz des Sprechens
Karl Vogt

Indem der Expressionismus die Erkennt-
nis gebracht hat, daß Kunst mit Denken
nichts zu tun hat, sondern sinnfällige Ge-
staltung von Erlebnis ist, scheint die Zeit
endlich reif zu sein, auch das Sprechen,
soweit es Kunstmittel ist, auf die Grund-
lage des Künstlerischen zu stellen. Nicht
genug gewürdigt ist ja die zwiespältige
Tatsache, daß die tönende Sprache einer-
seits Kunstmittel ist, andererseits Verstän-
digungswerkzeug. Zwischen den beiden
Zielen — das eine Mal: nüchterne und
praktische Verständigung zu übermitteln;
das andere Mal: durch bewegte Worte
lind Töne menschliches Erlebnis durch die
Sinne des Hörens wachzurufen — kann
gar nicht scharf genug unterschieden wer-
den. Die bisherigen Wort -oder Sprech-
künstler: Vortragende, Schauspieler, ja, so
unglaublich es auch scheinen mag, selbst
Sänger in vielfacher Beziehung, haben die
Gestaltung der Worte immer mehr oder
weniger intellektuell orientiert. Sie be-
mühten sich um Darstellung des jeweiligen
Inhalts der jeweiligen Worte, — eine pri-
mitive, schablonenhafte und zusammen-
hanglose Ausmalung der Einzelheiten, die
nicht einmal eine Satzkomposition, ge-
schweige denn die kompositorische Gestal-
tung eines Gedichtes oder einer Rolle oder
eines Dramas zuließ. Wenn bei einer
solchen falschen Konkretheit des Vor-
trages immerhin auch im Einzelfall oft
an das Erlebnis gerührt wurde, so
war dies doch unwirksam durch die gänz-
liche Außerachtlassung von rhythmischer
Formung. Bemühungen um rhythmische
Formung zeigten sich sonst meist in rein
370

äußerlich taktierender Weise. Es gab noch
eine andere Sorte von Sprechern, die vor-
zugsweise rationalistisch arbeitete. Sic
erklärte ihre Wortfolgen weniger durch
Ausmalung der einzelnen Worte, sondern
durch gedankliche Betonung des Satz-
ganzen. Sie war stolz darauf, Sinn und
Verstand darzustellen. Sic tat sich etwas
zugute, wenn sie Verse sprach, und nie-
mand cs merkte, daß cs sich um Verse
handelte.
Wir kommen heute der Erkenntnis näher,
daß dieses Verfahren das amusische
Sprechen genannt werden muß, ob cs nun
in der einen oder der andern Weise ver-
bogen erscheint. Es hat sich herausgestellt,
daß diese Vortragsweise keinerlei unmittel-
bare Wirkung hatte. Die ihrerseits intel-
lektualstisch verseuchten und dabei rüh-
rend willigen Zuhörer empfanden nur mit-
telbar eine Andeutung von Erlebnis, indem
sie auf intellektuellem Wege das rationa-
listisch Geformte in Erinnerungsbilder
und in Anschauungsformen verwandelten.
Selbst die als solche geltenden großen
Künstler — bis auf wenige Ausnahmen, die
dann von den Fühlenden fanatisch geliebt
wurden — gaben nur magere Kost, und
unmittelbare Erlebnisübermittlung ledig-
lich an den Höhepunkten, deren Zwang sie
hinaufriß.
Wenn jetzt eine Erziehung zu künstleri-
schem Sprechen stattfinden soll, so ist cs
nunmehr möglich, diese Erziehung ohne
falsche Umwege richtig und systematisch
aufzubauen. Alsdann wird auch die ver-
lorene und allgemein vermißte Kultur des
Sprechens wieder Tatsache werden. Selbst

-
 
Annotationen