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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Heft 5
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Walden, Herwarth: Aus der Zeit für die Zeiten, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0084

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Aus der Zeit für die Zeiten
Herwarth Walden
Morgenfeier
in der Strafanstalt Plötzensee
Von der Galerie der Kirche sieht man auf ein
paar hundert Männer in Sträflingstracht. Gut
frisierte Köpfe. Auffallend geweckte, rasierte
Gesichter. Vorn vor dem verhängten Altar
das Berliner Sinfonie-Orchester unter
Leitung von Clemens Schmalstich.
Konzert in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee.
Jeder Gefangene hat ein Programm. Auf ihm
ist vermerkt, daß das Konzert auf Veranlassung
des preußischen Landtagsabgeordneten Gustav
Menzel und mit Genehmigung des Herrn Geh.
Oberjustizrats Dr. Finkeiburg, Präsidenten
des Strafvollzugs-Amts und seines Vertreters,
des Herrn Oberjustizrats Dr. Lemkes, statt-
findet.
Das Orchester beginnt mit der h-moll-Sinfonie
von Schubert, der vollendeten Unvollendeten.
Schweigende Andacht liegt über Häuptern, die
sich senken. Unruhig hastende Finger falten
sich. Eine Gemeinde. Geschaffen durch die
Justiz. Die höchsten Beamten des Strafvollzugs
genehmigen den Verbrechern auf Veranlassung
eines Abgeordneten Kunst. Wie wenige mögen
ein Konzert in ihrer Freiheit gehört haben?!
Die Diener der Konzertsäle hätten sie in ihrer
Zivilkleidung vielleicht nicht einmal hinein-
gelassen, auch wenn sie Eintrittskarten ge-
stohlen hätten. Jetzt kommt das Orchester zu
ihnen. Unentgeltlich. Wenn auch auf Veran-
lassung und mit Genehmigung. Das Gewissen
der Gesellschaft erwacht. Einsperren ist
schließlich ziemlich einfach, wenn man die
Macht hat und wenn man aus ihr ein Recht
macht. Aber wenn man human wird und
hinterher Kunst gibt, scheint man sich doch
nicht so sittlich zu fühlen, wie man sich es
durch Gefängnismauern vortäuschen will.

Die Unvollendete schwingt aus. Schweigend
erheben sich die Gefangenen. Schweigend
verbeugt sich der Dirigent vor ihnen, um einige
Grade tiefer als sonst vor einem Publikum.
Hier grüßen sich Menschen in Ehrfurcht vor
dem Ewig-Menschlichem.
Der Musiklehrer Grabowski von der Straf-
anstalt spricht einige Worte, daß den Herren
diesmal besonders Schubert geboten werde.
Sie wissen doch, meine Herren, wegen der
Jahrhundertfeier.
Das ist jetzt in einem preußischen Gefängnis
möglich. Zum ersten Male. In Sowjet-Rußland
handelt man so seit Jahren. Grundsätzlich.
Nur nichts vom Ausland übernehmen. Aber
das Gewissen hat keine Grenzen.
Frau Dora Lemkes singt nun Schubert-Lieder.
Frauen sollten doch mehr Politik machen.
Auch wenn die Männer behaupten, daß sie es
nur können. Wo es doch nachweisbar nur
sehr wenige können. Eine Frau ändert ganz
schlicht den Strafvollzug. Frau Oberjustizrat
Lemkes mit Schubeit-Liedern. Die Männer
beraten indessen seit einigen Jahren die
notwendig gewordene Aenderung des Straf-
vollzugs.
Und immer wieder erheben sich schweigend
die Gefangenen.
Die Gesangsgemeinschaft Rosebery-d’Arguto
tritt nun vor dem verhängten Altar. Der Musik-
lehrer führt sie ein. Er preist d’Arguto als
Führer, den revolutionären Führer eines neuen
Chorgesangs.
Da stehen etwa hundert versorgte und
verarbeitete Männer, Frauen und Kinder.
Da bricht Musik aus der Masse hervor.
Ein Schrei. Ein Klang. Ein Leid. Eine
Freude. Sie singen dreistimmig, fünfstimmig,
sechsstimmig, zwölfstimmig gegliedert und ver-
bunden. Die Mitglieder der Gesangsgemein-
schaft sind Arbeiter und Angestellte mit ihren
Frauen, Kindern und Enkeln. Sie alle sind
der Kunst ergeben, Werkzeuge ihrer mensch-
lichen Empfindungen, Kunstwerk geworden

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