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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Walden, Herwarth: Lustfahrt nach Steglitz
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0020

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Lustfahrt nach Steglitz
Herwarth Walden
Für den Ausländer und den Inländer
besteht Berlin aus der Friedrichstadt und
Charlottenburg. Der eigentliche Berliner hat
noch den Begriff von westlichen Vororten,
durch die er manchmal mit der Eisenbahn
fährt, um nach dem sagenhaften Potsdam
zu kommen. Da erhalte ich plötzlich eine
Einladung nach Steglitz. Ein Kinopalast ist
eröffnet, der nicht weniger als Titania heißt.
Die Filmindustrie schwärmt für Tradition.
Capitol, Gloria, Alhambra, Primus sind
würdevolle Namen. Die dunkle Vergangen-
heit des „Phoebus“ hat man lebhaft an die
Sonne gezogen. Und „Titania“ wohnt in
Steglitz. Der Autobus torkelt durch die
Potsdamer Straße, alle zwei Minuten durch
eine rote Ampel freundlich begrüßt. Was
ihn veranlaßt nach zwei Minuten Fahrt zwei
Minuten in stummer Huldigung zu verharren.
Als Sehenswürdigkeit wenigstens gibt es noch
immer das Kammergericht. Unmittelbar da-
hinter befindet man sich in einer kleinen
Residenz. Die Straßenbahnen weichen Bäumen
aus, die sich unschuldig im Asphalt spiegeln.
Auf beiden Seiten zwischen griechischen
Tempeln, Beamtenniederlassungen des Ver-
kehrswesens, niedliche Dorfhüiten, die im
Interesse zukünftiger Bauspekulationen und
künstlicher Erhaltung der Wohnungsnot kon-
serviert werden. Schöneberg. Bahnüber-
führung. Freies Gelände. Garagen. Sied-
lungen. Eine endlose Chaussee mit Bäumen
dezent an der Seite. Friedenau. Endlich ein
hoher kubistischer Lichtturm auf gothisie-
rendem Unterbau. Der Titaniapalast. Die
Pressevorstellung muß ohne Presse stattfinden,

da die Karten leidergottseidank ausverkauft
sind. Den Herren wird anheimgestellt morgen
wieder zu kommen. Eine Methode zur Er-
hebung des Fremdenverkehrs in Steglitz.
Wenn Titania sich sperrt, winkt gegenüber
Gambrinus aus einem Bierpalast. Er trägt
die bayerischen Landesfarben um seinen
Bauch. Sein Edelgetränk heißt Animator.
Selbstverständlich mit Tannenreis. Die Herren
sind bereits ziemlich animiert. Sie wandern
verdächtig viel durch das Lokal. Alle tragen
keine Haare oder markieren das Fehlen der
Haare durch Friseurkünste. Millimeter-
maschine. Kennzeichen des gehobenen
deutschen Mittelstandes im Ausland. Eine
Berliner Kapelle in Bayerntracht spielt den
Hohenfriedberger mit Saxofon und Jazz. Um
allen Wünschen gerecht zu werden. Aus dem
gleichen Grund trägt das Mädchen mit
Freiburger Brezeln aus Unterfranken den
Bubikopf und Dirndlschürze. Die Inter-
nationale von Steglitz. Gang durch die gute
Luft. Zwischen den Läden mit Bedarfsartikeln
eine Luxushandlung. Verkauf von Mäusen
zu billigen Preisen. Von unsymbolischen
lebenden Mäusen. Unter je einem Kuppel-
käfig spielen je drei Mäuse Zirkus. Die
zahlreichen Beamten, die in dieser Stadt
wohnen, können sich hier einen billigen
Zeitvertreib für die Amtsstunden erwerben.
Man kann den Tierchen stundenlang zu-
sehen wie sie emsig arbeiten. Steglitz
macht auch sonst einen überaus ehrbaren
Eindruck. Berlin liegt weit vor den abge-
rissenen Toren dieser Stadt. Familien können
hier Kaffee kochen und Jugendliche haben
überall Zutritt. Hoffentlich wird Titania durch
ihre Anziehungskraft nicht allzuviele Stadt-
fremde nach Steglitz locken und dadurch
die Sitten dieser Stadt lockern.

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