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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Heft 6
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Schwitters, Kurt: Gestaltende Typographie
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0087

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Gestaltende Typographie
Kurt Schwitters

Die Bezeichnung neue Typographie ist geschicht-
lich richtig, aber nicht logisch, denn sie ist
nichts absolut Neues und hat besonders mit
Begriffen wie Mode oder modern nichts zu tun.
Neu wirkt sie auf uns nur, weil man in den
letzten Jahrzehnten überhaupt die Typographie
sehr vernachlässigt hatte. Den meisten Werbe-
sachen unserer Zeit fehlt am dringendsten
gestaltende Typopraphie, trotzdem bewertet der
Bund deutscher Gebrauchsgraphiker in seinen
Mindestsätzen die sogenannte typographische
Anordnung, wie er das nennt, sehr gering im
Vergleich zu gezeichneter Schrift. Das Wort
„typographische Anordnung“ ist sehr plausibel,
wenn man ihm den Begriff „typographische
Gestaltung“ gegenüber stellt. Man sieht dann
deutlich den grundlegenden Unterschied; ge-
meint ist mit Anordnung das übliche verständ-
liche Ordnen, das dem Werbefachmann eigen-
tümlich ist, und wodurch er mit Sicherheit die
typographische Ordnung, die er zu erstreben
glaubt, vernichtet. Zwar ist die verständliche
Ordnung der Glieder einer Werbesache die
notwendige Voraussetzung, jedoch als Ziel ist
sie verkehrt, denn sie ist für die Wirkung auf
die Sinne des Betrachters belanglos und verfehlt
ihren Zweck, weil zum Schluß alle Menschen
doch nur mit den Sinnen und nicht mit dem
Verstände etwas wahrnehmen können. Die
Wirkung auf die Sinne aber erstrebt und
erreicht die typographische Gestaltung durch
Zusammenfassen der einzelnen Reize zu einer
Komposition, die mit dem Auge und nicht mit
dem Verstände betrachtet werden soll. Die
Werbefachleute denken immer, daß andere Leute
auch dächten, und daß andere Leute, wenn sie
denken, genau so wie sie dächten, dabei denken
sie aber vorbei. Besonders denken sie dann
aber vorbei, wenn sie denken, daß andere
dächten, bevor sie gesehen haben. Sie kon-
struieren sich ein ganzes System, in dem ihrer

Ansicht nach der beliebige Beschauer zu
denken pflegt, und es kommen dabei die
verschrobensten Dinge heraus. So kann man
z. B. auf der Pressa in einem speziellen, dem
Werbefachmann gewidmeten Raume lesen, daß
sich in Rot das Alter kleiden kann, daß Rot
aber auch wieder die der Jugend gemäße
Farbe ist, daß Rot also überall hinpaßt. In
Wirklichkeit liegt die Sache aber so, daß die
Farbe Rot wie jede andere Farbe zu jedem
Alter, Stande oder Volke und zu jeder Berufs-
klasse sowie zu jeder geistigen Einstellung
paßt oder nicht paßt; und so wird es mit allen
Werbeweisheiten gehen, es ist zwar gut, sie
zu befolgen, jedoch kommt man ebenso schnell
ebenso weit, wenn man es auch nicht tut, und
man sollte den Werbefachleuten raten, sich statt
dessen einen ordentlichen Gebrauchsgraphiker
zur Gestaltung ihrer Werbepläne zu nehmen.
Der wird ihnen aber vielleicht beweisen, daß
vielleicht die Farbe Rot gerade fürs mittlere
Alter am besten paßt, während fürs hohe
Greisenalter ein scharfes Zitronengelb richtig
ist, denn es kommt nur auf die Zusammen-
stellung aller Werte, die eine Einheit bilden
sollen, auf Deutsch: auf die Komposition, an.
Nicht das Was macht es aus, sondern das Wie,
was wir sehen und hören, und ob es bis zum
Denken kommt, denn vom Sehen bis zum Denken
ist noch ein weiter Weg, und keiner tut eine
Arbeit wie das Denken ungezwungen; und
abgesehen davon, daß die Denkfaulheit sowieso
allgemein ist, hört und sieht der moderne
Mensch eine solche enorme Fülle von Ein-
drücken , daß er ungezwungen schon die
Registrierung der Eindrücke abzustellen pflegt,
um sich nicht unnütz mit Dingen zu belasten,
die ihn nichts angehen. Da ist es zunächst
schon von großer Wichtigkeit, überhaupt erst
einmal die Aufmerksamkeit des an einer
Zeitschrift oder Giebelwand Vorbeihastenden

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