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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 19.1928-1929

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Heft 7
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Blümner, Rudolf: Herwarth Walden: am 16. September 1928 50 Jahre alt
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https://doi.org/10.11588/diglit.47219#0106

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ein Entsetzen, Toben, Schreien und Schmähen
an, wie es bisher nur Reformation und
Revolution erregt hatten. Viele derer, die
es damals an Beleidigungen und Schimpf-
worten der abscheulichsten Art allen zuvor-
getan hatten, sind längst Verehrer dieser
neuen Kunst geworden, für die sie sogar
kämpfen. Walden aber ließ sich durch nichts
abbringen und folgte seit jener Zeit seinem
sichern Urteil und Empfinden. Er gründete
die ständige Kunstausstellung „Der Sturm“,
die er bis zum vergangenen Frühjahr durch-
geführt hat und die er jetzt am Kurfürsten-
damm wieder eröffnet hat.
Aber jede neue Ausstellung und jede neue
Nummer der Zeitschrift führte zu neuen
Feindschaften und Kämpfen. Immer wieder
offenbarte sich die uralte Neigung der
Menschen, das Neue erst nach Jahren an-
zuerkennen oder gelten zu lassen und gegen
das wieder Neue aufs neue auszuspielen.
Kaum waren die Kokoschka, Kandinsky,
Chagall, Ardupenko halbwegs anerkannt,
so kamen wieder neue Künstler, die den
Haß, der von jenen wich, auf sich lenkten.
Und in der Dichtung trug sich das gleiche zu.
Als Walden im Jahre 1914 die Dichtungen
des größten Wortgenies der deutschen Sprache,
August Stramm, zu veröffentlichen begann,
ging das gleiche Höhnen und Schimpfen
durch die Blätter. August Stramm, der
zuerst das deutsche Volk lehrte, seine Sprache
wieder neu zu begreifen, und Dichtungen
von unerhörter Kraft des Ausdrucks schuf,
wurde ein Verderber der deutschen Sprache
und Keffeehausliterat geschimpft, als er schon
in Rußland gefallen war. Es bleibt für immer
eine der größten Taten Waldens, diesen
Sprachgeist ans Licht gebracht zu haben.
Auch die Jungen, die nach Stramm kamen,
wie Heynicke, Behrens, Runge, Schreyer,
hatten es nicht leicht. Walden hielt sie

gegen allen Hohn und suchte damals auch
sich des noch immer verkannten Hermann
Essig bis zu dessen frühem Tod anzunehmen.
Groß aber ist die Zahl der Maler, die ihre
Förderung und Anerkennung Waldens Urteil
und Energie zwar nicht immer danken, aber
zu danken haben: Neben dem französischen
Kubisten Gleizes, Delaunay, Leger, der ver-
storbenen Holländerin Jacoba van Heems-
kerck vor allem die Deutschen Klee und
Campendonk, Schrimpf und Muche, und
manche, die sich Gropius später ans Bauhaus
holte, dazu Schwitters, der „Merzkünstler“,
und Molzahn, Stuckenberg, der Bildhauer
Wauer, die Ungarn Kädär, Scheiber und
Bernath, Italiener, Belgier, Russen, Schweizer,
Rumänen, Tschechen, Argentinier und
Amerikaner.
Unter den Dichtern des „Sturm“ nahm Walden
selbst den ersten Rang ein, als er spät im
Leben, 1918, begann, in rascher Folge seine
Dichtungen zu schaffen: zwei Romane
(„Das Buch der Menchenliebe“, „Die Härte
der Weltenliebe“), die Dramen „Weib“,
„Menschen“, „Trieb“ und „Kind“ und zahl-
reiche Einakter sowie den lyrischen Band
„Im Geschweig der Liebe“. Alle diese
Dichtungen hat die deutsche Oeffentlichkeit
bis heute ignoriert, und ich müßte eine
eigene Broschüre schreiben, um die Gründe
zu zeigen. Andere Länder haben diese
Dichtungen besser begriffen, vieles übersetzt
und erscheinen lassen, einige der Dramen
sind in Belgien und Frankreich aufgeführt.
Das Wesen dieser Dramen (und Romane) ist
der gegenständliche Expressionismus: alles
ist gegründet auf das Wort und den Rhythmus
der Sprache, die das Stoffliche beherrschen,
während in der gesamten bisherigen Dichtung
der Stoff die Sprache regiert.
Auch als Musiker ist Walden in der Oeffent-
lichkeit so gut wie unbekannt geblieben.
 
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