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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 21.1932

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Würtz, Hans: Krüppel
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https://doi.org/10.11588/diglit.47223#0011

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Krüppel
Hans Würtz
Will der Botaniker mit seinen Feststellungen etwas über das
Wesen der Pflanzenseele aussagen? Den Botaniker interessieren
nur die spezifischen Funktionszusammenhänge, die er mit Fach-
namen belegt, die, wenn sie das Seelenleben gleichnishaft andeuten,
doch keine weltanschauliche Verbindlichkeit in sich schließen.
Demgemäß muß der Krüppelpsychologe feststellen, daß auch die
Krüppelseele besonders empfindlich ist für alles, was den Krüppel
im Vergleich mit den Gesunden im Urteil der Menge herabsetzt
oder herabsetzen könnte.
So wenig wie der Botaniker mit seiner Feststellung der be-
sonderen Sensibilität des Gewebes der Mimose ein Dogma über
die Pflanzenseele aussprechen will, so wenig liegt es in der Ab-
sicht des Krüppelpsychologen, einen Lehrsatz über die Krüppelseele
zu äußern, wenn er die besondere Empfindsamkeit des Krüppels
in seinem Vergleich mit den Gesunden meldet.
Der Krüppelforscher wird aber noch viel bewußter vorschnelle
Verallgemeinerungen meiden müssen, als der Pflanzenforscher. Der
Botaniker urteilt nach äußeren Merkmalen und faßt regelmäßige
Reaktionserscheinungen unter einem Generalnenner zusammen. Der
Krüppel aber als persönlich beseelter Mensch ist nicht zu schema-
tisieren und schwer zu diagnostizieren. In ihm kreuzen sich Linien
der körperlichen Verfassung, aus ererbter Veranlagung und aus
Umwelteinflüssen.
Für die krüppelpsychologische Beurteilung ist von entscheiden-
der Bedeutung die Selbstwertung des Gebrechens oder der Ent-
stellung. Je mehr das Selbsterlebnis des Leibes im Mittelpunkt
des Selbstbewußtseins steht, um so schärfer und stärker wird die
krüppelpsychische Ausprägung der Persönlichkeit sein.
Das Krüppelleiden beeinflußt bei vielen Gebrechlichen das
Innenleben so entscheidend, daß berechtigt von Schulbeispielen der
Krüppelseelenkunde gesprochen werden kann. Ein aufschlußreiches
Beispiel ist Lord Byron, der in jeder Lebenslage und in jedem
Lebensalter die Tragik seines Klumpfußes empfindet.
So schreibt Hermann Sinsheimer, Berlin in der Befrachtung
über einen zeitgenössischen bedeutenden aber körperlich kleinen
Parteipolitiker: „Kleine Menschen lieben es off, das Uebermaß
und das Unmäßige zu sehen und gelten zu lassen. Was organisch
zwischen diesem und ihrer eigenen Kleinheit liegt, das überspringen
sie. Sie überspringen damit ihre eigene Sphäre und alles, was
geistiger Widerstand heißt und Entwicklung bedeutet. Das scheint
ihnen königlich und majestätisch zu sein, sie sind wie die Heu-
schrecken." (Berliner Tageblatt vom 9.4.1931.)

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