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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 21.1932

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Schwitters, Kurt: Kritiker
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Man kann auch "ohne"
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https://doi.org/10.11588/diglit.47223#0031

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Kritiker
Kurt Schwitters
Kritiker sind eine besondere Art Menschen. Zum Kritiker
muß man geboren sein. Mit ganz außergewöhnlichem Schaafsinn
findet der geborene Kritiker das heraus, worauf es nicht ankommt.
Er sieht nie den Fehler des zu kritisierenden Kunstwerks oder des
Künstlers, sondern sein eigenes Fehlen, sichtbar gemacht durch
das Kunstwerk. Der Kritiker erkennt durch angeborenen Schaaaf-
sinn, man könnte sagen gewissermaßen seinen eigenen. Fehler durch
das Kunstwerk. Das ist die Tragik aller Kritiker, sie sehen Fehler
statt Kunst. Kunst sehen heißt für den Kritiker, seine Fehler am
Kunstwerk rot anstreichen und eine Zensur darunterschreiben. Kri-
tiker sind den mit Unrecht so beliebten Oberlehrern ähnlich. Aller-
dings braucht der Kritiker kein Examen zu machen, zum Kritiker
ist man eben geboren. Der Kritiker ist ein Geschenk des Himmels
an die Menschheit. Mit Oberlehrerin gesäugt, nährt er sich von
Kunstfehlern zum Segen der Schaaaafzucht. Sich sägen bringt Regen.
Zwischendurch trinkt der Kritiker dann noch ein Gläschen rote
Tinte. Jeder Kritiker hat einen Regenschirm, in den er wieder
gewissermaßen hineingeheiratet hat. Denn sich sägen bringt Regen
zum Segen der Schaaaaafzucht. Die besagte Oberlehrerin aber ist
ein dicker sirupartiger Saft, hergestellt aus Absonderungen der
Galle von wirklichen geheimen Oberlehrern und dem Magensaft
verblödeter Schaaaaaafe. Besagte Schaaaaaäafe brauchen kein
Examen gemacht zu haben, wie der Kritiker. Kritiker brauchen ihre
Regenschirme in der Kunstausstellung nicht abzugeben. Der Regen-
schirm aber muß ein Examen machen. Nur löcherige Regenschirme
werden zur Kritik zugelassen. Je mehr Löcher, desto mehr Regen.
Je mehr Regen, desto mehr Sägen. Je mehr Sägen, desto mehr
Kritik. Um auf das Schaf zurückzukommen: Kritiker sind eine be-
sondere Art Menschen. Zum Kritiker muß man geboren sein. Kri-
tiker sind schafgeboren, schafgesäugt mit Oberlehrerin und schaf-
trunken von dem Kunstwerk.

Man kann auch „ohne“
In New York verstarb kürzlich der Kritiker Mathews Brander. Seine
bissigen Bemerkungen überlebten den gefürchteten Mann und sind in
Amerika heute noch im Umlauf. Als ihm einst ein Freund die Kunde
von den fabelhaften Leistungen eines einarmigen Klaviervirtuosen ver-
mittelte, war der Kritiker gar nicht erstaunt. „Einfach wunderbar,
wie dieser Mann, dessen linker Arm amputiert werden mußte, sein
Instrument beherrscht“, schwärmte der Freund. — „Das ist doch
nichts Besonderes“, meinte Brander. „Warum soll nicht ein Mann
ohne Arme Klavier spielen, wo doch jahrein jahraus Sänger und
Sängerinnen ohne Stimme singen!"

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