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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 21.1932

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Liebmann, Kurt: Reaktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.47223#0089

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Reaktion
Kurt Liebmann
Geist ist nicht. Geist wird. Er wird im menschlichen Körper,
durch den menschlichen Körper. Geworden, ist er die Herrschafts-
form des Körpers. Der Körper ist die Gesamtheit, die Gesammelt-
heit der objektiven Welt. Mit der Veränderung der objektiven
Welt verändert sich der Geist.
Jeder „reine“ Geist ist unsauber. Jeder absolute Geist ist
relativ. Nämlich: Ausdrucksform eines Menschen, der nicht im-
stande ist, sein Ich mit der objektiven Wirklichkeit auszugleichen.
Reaktionär ist der Mensch, der, anstatt eine harmonisch-organi-
sierende Form des ausgereiften, diesseitigen Menschen zu bilden,
die Schlacken seines Ich in ein Außerweltliches und lieberweltliches
(Gott, beseeltes All) transponiert. Im Mittelalter war die Hingabe
an einen außermenschlichen Geist Zeichensprache für einen orga-
nischen Vorgang. In der Gegenwart bedeutet diese Hingabe eine
Krankheit.
*
Geist ist eine Zeichensprache. Der Geist ist nichts Selbständiges.
Er ist an sich auch nicht schöpferisch. Schöpferisch ist die Gesamt-
heit des sinnenhaften Menschen. Die hohe Organisationsform des
menschlichen Gehirns ist ein Teil dieser Sinnenhaftigkeit.
Reaktionär ist die Anschauung, die den Geist verdinglicht und
das Verdinglichte außerhalb und überhalb der menschlichen Ent-
wicklung stellt. Der Geist ist nicht ewig. Er entstand mit dem
Menschen und entwickelte sich mit ihm.
Verdinglichungen des Geistes treiben alle modernen idealisti-
schen Philosophien, die noch nicht Religion und Philosophie trennen.
Jede Philosophie, die das Faktum der objektiven Realität über-
geht, ist reaktionär. Ebenso jede Philosophie, die subjektiver Aus-
druck einer Persönlichkeit ist. Jede Wissenschaft, die nicht radikal
die Theologie ausmerzt, ist reaktionär. Gottlehre in der Natur-
wissenschaft ist der Dualismus von Kraft und Stoff. Gottlehre
in der Psychologie ist die Lokalisation der Seele an ein bestimmtes
Organ. Gottlehre in der Medizin ist der Dualismus von krank
und gesund, ist die Verabsolutierung der Krankheit. Krankheit ist
ebensowenig an sich wie der Geist an sich ist. Sie ist ein Grad
der Gesundheit.
Es gibt keinen Geist. Es gibt keinen reaktionären Geist. Es
gibt nur reaktionäre Menschen. Reaktionäre Menschen sind kranke
Menschen. Kranke Menschen sind Menschen, die ihr Ich gegen
die Dynamik, gegen den Stoffwechsel des Lebens stauen und
stemmen. Genau so entsteht der Krebs. Die gesamte Geistes-
geschichte ist auch eine Geschichte der Krankheiten.

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