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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 21.1932

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Weltstadt an sich
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https://doi.org/10.11588/diglit.47223#0062

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Weltstadt an sich
Lokaldienst am Kunden
Berlin eine Metropole. Hat mindestens dreißigtausend Straßen. In
jeder Straße durchschnittlich mindestens hundert Häuser. Und beinahe
in jedem Haus ein Lokal. Eßlokal, Trinklokal, Eßundtrinklokal. Das er-
gibt drei Millionen Lokale für Groß-Berlin. Vielleicht noch mehr mit
den Vororten. Diese Lokale sind für die Bevölkerung. Denkt sich die
Bevölkerung. Also Dienst am Kunden. „Service“: Lokale für das Publi-
kum. Für seine Bequemlichkeit und Annehmlichkeit.
Deutschland hat den Dienst am Kunden aus Amerika importiert und
verdeutscht. Nicht die Lokale für das Publikum, das Publikum für die
Lokale. Laut Resolution der Lokalinhaber. Zwar in der Reichsverfassung
bisher nicht vermerkt. Aber nichtsdestotrotz vorhanden.
Die meisten Lokale haben einen Hinterraum und einen Vorderraum.
Zufällig nicht für Staatsbürger erster und zweiter Güte bestimmt. Jeder
Raum muß aber zwangsläufig Vorderräume und Hinterräume haben.
Schon, um in beiden Räumen möglichst ungepflegtes Bier gegen Entgelt
ausschenken zu können. Die Staatsbürger lieben Räume erster Ordnung
und sitzen vornehm und vornehmlich vorn. Bleibt also der Hinterraum
an Wochentagen leer. Und da dürfen die lokalbesuchenden Staats-
bürger mit Minderwertigkeitskomplexen, die rückwärtige Stille lieben,
nicht in der Stille des Hinterraums sitzen bleiben. Sie müssen nach vorn
rücken. Lichtersparnis verstehste. Notverordnung. Die Aufforderung, zu
den Mitbiertrinkern nach vorn zu rücken, geschieht meist zwischen
der ersten und zweiten Hälfte eines Bierglases. Folgerichtig in dem Augen-
blick, in dem das Bier trotz seiner Ungepflegtheit relativistisch am besten
schmeckt.
Da schmeckt das Bier infolge der infolge der Notverordnung erfolgten lichf-
ersparnisbegründeten Verzehrsstörung plötzlich wieder ganz bitter. Beim
nächsten Glas gelangt man langsam in den Vollbesitz seines Gleichgewichts
und findet sogar den zwangsläufigen Vorderraum sitzbar. Da bittet
der Herr Ober unvermittelt, abrechnen zu dürfen. Von wegen des Ab-
tritts. Der Herr Ober nämlich will abtreten.
Zweite Verzehrsstörung. Man läßt das Bier stehen, läßt das zweimal
hintereinander brutal gestörte Gespräch unvollendet, findet das Lokal
trotz erster Ordnung nicht mehr sitzbar und geht bös nach Hause. Um
aus Wut nicht einschlafen zu können.
Man denkt an die Vereinigten Staaten. An „Service“. An Licht-
ersparnis, Abtritt, drei Millionen Lokale und den Dienst am Kunden in
DRP-Reinkulfur.
Berlin: eine Weltstadt an sich. An und für sich. Für sich!
Mc. R. Err

Der stotternde Leichnam
Leo Nikolajewitsch Tolstoi hat nur den „Lebenden Leichnam“ ge-
schrieben. Den „Stotternden“ gestaltete ein ukrainischer Beamter. Der
Gemeindevorsteher Boriotschenko erließ folgenden Steckbrief: „Wir suchen
den Leichnam unseres Dorfrichters. Mittelgroß, blaue Augen, blondes
Haar, dunkelgrauer Anzug. Besonderes Kennzeichen: Er stottert“.

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