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Deutscher Nationalverein [Editor]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

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No. 72 - No. 75 (4. Oktober 1866 - 25. Oktober 1866)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43377#0056
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sonderliche Verwunderung, als der Abgeordnete Duncker,
gegen den eine Untersuchung wegen einer nicht ganz voll-
ständigen Veröffentlichung der Verhandlungen des Ab-
geordnetenhauses über den bekanntcnBeschluß des Ober-
tribunals bezüglich des Artikels 84 der Verfassung ein-
geleitet war, vom Criminalgeriche zu Berlin wegen Maje-
stäts-Beleidigung, begangen in Gnc ist's Rede durch
die Hinweisung auf Karl I., zu 6 Monate Gefängniß ver-
urteilt wurde. Das Obertribunal batte ja schon früher die
Ansicht ausgesprochen, daß eine unvollständige Veröffentlichung
der Verhandlungen des Abgeordnetenhauses nicht durch die
Straflosigkeit der stenographischen Berichte gedeckt werde.
Es erregte auch keine große Sorge, als für Tw c st en,
wegen seiner berühmten Rede über jenen Obertribunals-Be-
schluß, ein Termin zur Verhandlung der Sache in II. Instanz
auf den 5. November angesetzt wurde. Man erwartete auch
vom Kammergericht bestimmt ein freisprcchendes Urtheil, wie
es in I. Instanz gesprochen worden, und wenn die-Lache dann
auch wirklich noch, trotz alledem und alledem, an das Ober-
tribunal gebracht und dort zu Ungunsten des Angeklagten
entschieden wurde — nun, so war ja die Amnestie oa.
Darum kümmerte mau sich im Lande auch nicht viel um die
weiteren Verurteilungen wegen geringerer Preßvergehen. Die
wiederholte Confiscation der „Rhein. Ztg.", der „Volköztg.",
des Auerbach'scheu Volkskalenders u. s. w. berührten wohl
unangenehm, wie die fortvauernden Nichtbestätigungen kommu-
naler Wahlen. Indessen man beschwichtigte sich selbst einiger-
maßen damit, daß untergeordnete Machthaber nicht so leicht
von ihren schlechten Gewohnheiten lassen, und daß in neuester
Zeit doch zwei Stettiner Stadtschulräthcn die früher versagte
Bestätigung crtheilt und daß die Wiederwahl des oberschlesigcn
Abg. Tauchcrt (von der Fortschrittspartei) zum Bürger-
meister vom Ministerium nicht beanstandet sei. Wenn Solches
am Grasen Eulenburg geschah, warum sollte es nicht auch
am Grafen Lippe geschehen, die man immer in einem
Athem zu nennen gewohnt war! —
Sehr unangenehm überraschte daher die am 15. d. bei
einem Preßprozeß von dem Staatsanwalt von Plotho ab-
gegebene Erklärung, „daß auch 1861 nicht säm»etliche
nachträglich ausgesprochene Verurtheilungen auf den Bericht
des Justizministcrs aufgehoben seien und daß dießmal eben-
falls Ausnahmen Vorbehalten bleiben!" Und als ob man
jeden Zweifel über den im Justizministerium und in der Ober-
staatsanwaltschaft herrschenden Geist beseitigen wollte, bean-
tragte die letztere, wie man jetzt erfährt, nachdem am 20.
Sept, die allgemeine Amnestie erlassen war, schon am 29.,
unmittelbar nachdem die Regierung die Kammer mit Dank
für ihre Beschlüsse vertagt hatte, eine neue Disciplinar-
Untcrsuchung gegen den Abg. Twest en — wegen einer
am 4. Juni gelegentlich der Wahlen gehaltenen Rede, in
welcher er, lange vor dem Kriege, das Ministerium wegen
Handlungen getadelt, für welche es nach dem Kriege selbst
Indemnität nachsuchtc und, unter warmer Fürsprache des nun
Angeklagten als Referenten, auch erhielt! Die Indemnität
sollte nach Graf Eulen burg's Ausdruck die „Prälimiuar-
Grundlage für einen wahren, dauerhaften und fruchtbaren
Frieden zwischen Regierung und Volksvertretung" sein: —
wessen Schuld ist es nun, wenn sic eine Formalität bleibt?! —
Es ist eine leere Phrase, wenn man den Liberalen, welche
für die Indemnität und für die Krcditforderung der Regie-
rung stimmten, „Vertrauensseligkeit" vorwirft. Mit geringen
Ausnahmen haben sic sich einer solchen sicher nicht hingegebc».
Sie haben ihr Ja als eine politische Nothwcndigkeit ange-
sehen, die ihnen durch ihre Pflichten gegen den preußischen
Staat und gegen das deutsche Vaterland auferlegt wurde. Sic
haben keineswegs gemeint, daß Graf Bismarck über Nacht
mit fliegenden Fahnen in das liberale Lager übergehen werde;
aber sie haben ihm die Einsicht zugetraut, daß er seine
nationale Politik nur durchführen könne, wenn er den For-
derungen der liberalen Partei gerecht werde, und sic haben
ihm die Macht zugeschricben, die ihm dabei cntgrgenstehenden
Hindernisse zu beseitigen. Sie haben diese Hindernisse durch-

aus nicht unterschätzt; sie haben sich gesagt, daß dazu Zeit
gehöre, daß das Ministerium, wie das Volk selbst, nach den
gewaltigen Anstrengungen der letzten Monate der Ruhe und
Erholung bedürfe, und daß man deßhalb nicht schon in der
vorigen Session die Erledigung der innere» Beschwerden for-
dern könne. Aber das haben diese Liberalen allerdings »ach
der Annahme jener Präliminarien erwartet, daß die Regie-
rung nicht neue politische Maßregelungen und Verfolgungen
liberaler Manner, um vergangener Dinge willen, eintreten lassen
werde, wenn diese Präliminarien auch nicht, wie bei Friedens-
schlüssen kriegführender Mächte, paragraphenweise zu Papier
gebracht waren. Sie haben es sich nicht verhehlt, daß neben
dem Grafen Eulenburg, welcher derHauptrepräscntant der
reaktionären Partei-Regierung im Innern war, der Graf zur
Lippe, der im Ministerrath gegen das Einbringen des
Jndemnitätsgesctzes und gegen den Erlaß der Amnestie ge-
stimmt und bei den Verhandlungen im Hause über diese zu
seinen: Ressort gehörenden Angelegenheiten beharrlich ge-
schwiegen hatte, der ungeeignetste Mann sei, einen „wahren,
dauerhaften und fruchtbaren Frieden" zwischen Regierung und
Volksvertretung heraufzuführen. Das hat auch Graf Bis-
marck eingesehen; denn er hat seinen Kollegen zum Einreichen
seiner Entlassung bestimmt; aber er hat nicht die Macht ge-
habt, die Annahme derselben zu erwirken — und seitdem
segelt Graf Lippe, in seiner Stellung neu befestigt, seinen
Äntecedentieu getreu, im alten Fahrwasser weiter. Die liberale
Partei »ruß die Zumurhung der Regierungspresse, um der
von ihr gutgeheißene» äußeren Politik willen auch die seit-
herige Opposition gegen die fortgesetzten Verfolgungen im
Inneren „aus Patriotismus" fallen zu lassen, als eine unan-
nehmbare und unwürdige unbedingt zurückweisen, und sie wird
das auch thun. Wenn daraus neue Konflikte entstehen —
s i e hat ihrerseits den Pakt gehalten! Möglich, daß aus neuen
Zerwürfnissen für die liberale Sache kein Vortheil und für
den Bestand des Ministeriums kein augenblicklicher Nach-
theil entsteht; aber der preußische Staat und das deutsche
Vaterland werden sicher großen Schaden dadurch erleiden. Das
Ministerium steht, nach Bismarck's eigenem Ausdruck, erst
im Anfänge seiner Aufgaben, und daß seine auswärtigen Pläne,
die Assimitirung des durch die Gewalt der Waffen Errungenen,
durch ein solches Vorgehen im Inneren in bedenklichster Weise
tahm gelegt werden, das vorherzusagen bedarf es keiner großen
Prophetengabe. Den großen Nutzen der „moralischen Erobe-
rungen", welche der Nationalverein vor dem Kriege bereits
für Preußen gemacht hatte, wird ein Staatsmann, wie Bis-
marck, trotz des Hohngeschreis des Junkerthums, schwerlich
unterschätzen. Jetzt aber ist es an der Regierung selbst, mo-
ralische Eroberungen zu machen, wenn nicht noch lange Alles
in der Schwebe bleiben soll. —
Die Grundlagen für die innere Verwaltung und die
militärische Organisation in den neu erworbenen Landestheilen
sind nunmehr gelegt; aber Alles kommt auf eine geschickte,
schonende und liberale Ausführung und auf die Wahl der
ausführcnden Persönlichkeiten an, damit sie nicht, wie anders-
wo, die Verbreitung „konservativer" und die Verfolgung libe-
raler Gesinnungen für die Hauptaufgabe der Regierung halten.
Die bereits dekretirte allgemeineWehrpslicht wird ohne
Zweifel vielfach einen schweren Stein des Anstoßes bilden;
aber diese ist so fest mit dem preußischen Volke verwachsen,
daß Niemand sie aufgeben will, obgleich Jeder die furchtbar
schwere Last anerkennt, die sie dem Volke auferlegt. Dem:
Jeder hat die Ueberzengung, daß das künftige deutsche Reich
nur auf dieser Grundlage so breit und sicher ruhen kann,
wie der preußische Staat auf ihr ruht, und gerade darum ist
eS die wichtigste Aufgabe der Regierung, ihre Durchführung,
durch thuulichste Abkürzung der Präsenzzeit bei der Fahne, ohne
allzu große Beeinträchtigung der Arbeit des Volkes möglich
zu machen. —
Die Vorlage über die Einverleibung von Schleswig-
Holstein kam in der vorigen Session ohne Schuld der Kom-
mission nicht mehr in das Haus. Die Kommission war sehr
geneigt, gleichzeitig die Einverleibung Lauenburgs
 
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