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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

DOI Kapitel:
No. 81 - No. 84 (6. Dezember 1866 - 27. Dezember 1866)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43377#0116
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648

ordentlichen Versammlung, welche früh im nächsten Jahre Zu-
sammentritt, wird die Reform der Verfassung der Stadt
Ncwyork sein; und es ist sehr lehrreich, zu sehen, welche Rich-
tung die Reform-Ideen in dieser Hinsicht nehmen. Zwei
Pläne werden erörtert, von denen der eine der Annahme
ziemlich sicher ist. Der erste läuft darauf hinaus, zu dem
alleinigen Stimmrecht der Haushaltsbesitzcr zurückzukehrcn,
unter welchem die Stadt früher billig verwaltet wurde, und
so alle Einwanderer und einen umfänglichen Theil der ärmeren
Classcn auszi.schlicßen. Der zweite, radikalere Plan, der noch
größeren Anklang findet, ist, das Gemctndeleben Ncwyorks
ganz zu cassircn, Newyork nicht als Stadt, sondern als „Waaren-
lager des Staats" zu behandeln, und demzufolge durch eine
kommissarische Behörde zu verwalken, die der Governor für
eine gewisse Reihe von Jahren ernennt. So intensiv ist der
Widerwille, den der gegenwärtige Stand der Dinge hervor-
gerufen hat, daß man es für wahrscheinlich hält, eine so ex-
treme Maßregel werde durchgehen, und eine Art Diktatur be-
rufen werden, die Ucbel auszurottcn, welche die demokratische
Verwaltung in der Hauptstadt der neuen Welt begründet hat.
Welcher von diesen Vorschlägen aber auch schließlich an-
genommen werden mag: sie sind, einer wie der andere, auf die
Voraussetzung gegründet, daß das allgemeine Stimmrecht
neunzehn Jahre hindurch in der größten und reichsten Stadt
Amerikas probirt worden ist und die Probe schlechterdings nicht
bestanden hat. Das Regiment, welches aus ihm hervorgegan-
gen, ist nicht sparsam, nicht fruchtbar an großartigen
Schöpfungen, nicht bewährt durch Werke praktischer Nächsten-
liebe , nicht populär unter irgend einer dauernd ansässigen
Elaste der städtischen Bevölkerung. Diese Erfahrung sollte
den politischen Denkern keiner Nation entgehen, denn sie er-
schüttert die Theorie von ter wnnderwirkendcn Kraft des all-
gemeinen Stimmrechts bis auf den Grund. Wenn eine
Million freier republikanischer Amerikaner, nachdem sie es
mit dem «System unbeschränkter politischer Gleichheit ver-
versucht hat, zu einem beschränkten, sozusagen konstitutionellen
System übergeht, so haben wir alle Ursache, unseren Glauben
an jenes System noch um einige Grade niedriger zu schrauben.
Den weiteren Reflexionen des „Economist" — keines Or-
gans der englischen Aristokratie, sondern einer in hoher Ach-
tung stehenden, unbefangen denkenden volkswirthschaftlichcn
Wochenschrift — wollen wir hier nicht folgen. Das An-
geführte wird hinreichen, die Aufmerksamkeit des Lesers auf
die besprochene große Thatsache und ihren Werth für unsere
heimischen Institutionen hinzulenken.
Zeitungsschau.
Die Norddeutsche Allg. Zeitung beschäftigt sich sehr einganglich mit
der Frage von dem angeblichen Doppelwarakter des preußischen Ministe-
riums, der nach außen gekehrten liberalen und nach innen gewendeten kon-
servativen Seite desselben. Rach der Meinung der N. Ä. Z. ist diese
Frage eigentlich eine sehr müßige, gleichwohl aber dahin zu beantworten,
daß Herr v Bismarck eben so konservativ sei, wie seine Collegen, konserva-
tiv insbesondere such in seinem revolutiorLren Borzehen gegen den deut-
schen Bund, der ja eben die größte Gefahr des Umsturzes in sich getra-
gen habe. Uebrigens solle man endlich von den Schulbegriffen des Li-
beralismus und des ConservativiSmus absehcn und sich daran halten,
daß die jetzige Berliner CabinetSpolilik eine preußische und eben deß-
halb auch deutsch-nationale sei. Wir lassen den wesentlichen Theil des
Artikels folgen:
„Was unsere Parteibildung anbetrifst, so ist dieselbe unter den ei-
genthümlichen Berhätnissen des deutschen Bundes niemals eine nationale,
oder lwenn man lieber will, nie eine parlicularistisch preußische gewesen;
sondern sie ist in Preußen, wie in ganz Deutschland, eben nur aus der
Agilaliou gegcn die deutsche Bundesverfassung hervorgegangen. Der
Kamps gegen und für dieselbe war das Unterscheidungszeichen der Par-
teien. Dort war das liberale, hier das konservative Lager zu suchen. Alle
revolutionären und fortschrittlichen Parteien, von den Demagogen-Bewe-
gungen des zweiten Dezenniums dieses Jahrhunderts bis zur deutschen
Fortschrittspartei des Jahres 1862, hatten die deutsche Bundes-Reform
auf ihre Fahne geschrieben, diese schwarz-roth-goldcne Fahne, die überall
als da« Zeichen der Opposition galt."
„Aber dieses Streben nach Bundesresorm war nicht der einfache
Zweck, sondern auch der gleichzeitige Vorwand für die inneren Agitationen
m den einzelnen Staaten, und die Solidarität, welche die liberalen und

revolutionären Parteien in der deutschen Reformagitation fanden, trieb
dann auch die konservativen Parteien zu eben solcher Solidarität für den
Bund zusammen. Hierzu kam gleichzeitig noch das in der ehemaligen
Bundetakle selbst stipukirte SolidäritätSprincip der deutschen Regierungen,
welcher in dem Großstaate Preußen die auswärtige Politik in eine ge-
wisse Abhängigkeit von den deutschen Bundesverhältnissen brachte, das
Bewußlsetn des preußischen NationalgeisteS abschwächte und leine rück-
sichtslose preußisch-nationale Politik gestattete. Dies Alles hatte zur Folge,
daß mau sich daran gewöhnte, nicht mehr zwischen der äußeren und in-
riern Politik Preußens zu unterscheiden, sondern beide mit einem und
demselben Matzstabe, dem der inneren Partei zu messen "
„Nur wenn mau diese Umstände in Eiwägung zieht, kann man
sich erklären, wie dieser seltsame Streit darüber entständen ist: ob Graf
Bismark liberal oder konservativ, oder beides zugleich sei. Um die ganze
Absurdität eines solchen Streites zu begreifen, mag man sich die Fragt
vorlegen, ob etwa der Kardinal Richelieu, der die Protestanten in Frank-
reich verfolgte und sie in Deutschland protegirte, ein Anhänger des Ka-
tholizismus oder des Protestantismus war; — und um eiu anderes Bei-
spiel aus der modernen Zeit zu nehmen, erinnern mir an die Politik
de» gegenwärtigen Kaisers der Franzosen, der von unsern fortschrittlichen
Paneien gerade nicht als do« Ideal ihrer Wünsche sür die innere Ver-
waltung aufgestellt wird, und dem doch Niemand das Zeugniß versagen
kann, daß seine auswärtige Politik keine engherzige ist, sondern im Sinne
der freiheitlichen Ideen geleitet wird.
„Es wird an diesen Beispielen genügen, um zu zeigen, wie unrich-
tig es ist, an die auswärtige und arr die innere Politik eines Großstaale»
mit dem Maßstab der modernen Parteibezeichnungen „konservativ oder
liberal'' herantrelen zu wollen, nachdem wir oben dargelegt, wie man
überhaupt zu dem Jrrlhunr gekommen, die auswärtige und die innere
Politik, trotz ihrer Unzusammengchörigkeit, zu einer unmöglichen Einheit
verschmelzen zu wollen."
„Halten wir aber beide getrennt, und erinnern wir uns, daß die
Beziehungen Preußens zum deutschen Bunde den wichtigsten Theil un-
serer auswärtigen Politik ausmachten, daß aber dieser deutsche Bund mit
feiner Unbeweglichkeit nach fünfzig Jahren fortschreitender Entwickelung
Preußen zu ersticken drohte; — daß gleichzeitig die Nothwendigkcit einer
BundeSreform eine so berechtigte geworden war, daß ihre Verweigerung
den revolutionären Parteien zur besten Handhabe ihrer Agitationen diente,
wie dies ja selbst von konservativen, österreichischen Staatsmännern (Graf
Thun) anerkannt wurde; — mit einem Worte: war die deutsche Bun-
deS-Versassung eine Gefahr für Preußen geworden, so handelte Graf
Bismarck nur durchaus im konservativen Interesse, wenn er, da er in
Güte nicht ging, mit Gewalt die Schranken brach, welche dem Staate
den Untergang drohten-
„Werin Graf Bismarck dagegen statt der preußischen Farben die
schwaz-rolh-goldenen aufgesteckt, wenn er den Zweck verfolgt hätte, nicht
nur den deutschen Bund, sondern auch Preußen zu vernichten und durch
diesen deutschen Zukunflsstaar zu ersetzen, der das Ideal der liberalen und
revolutionären Träumer ist; — dann würden unsere Gegner das Recht
baden, diese Politik für ihre Partei in Anspruch zu nehmen. Aber der
Mann, welcher nicht etwa einen politischen Nebelfleck zur Basis seiner
Operationen macht, sondern sen rossisr äs bronrs als den Krystallisa-
tionspunkt erkennt, au den sich die neue politische Gestaltung ansetzen
muß, ein solcher Mann ist konservativ im besten Sinne des Wortes."
„Aber auch hier möchten wir wieder daran erinnern, daß es viel-
mehr am Platze wäre, wenn diese kleinlichen Bezeichnungen ganz wegfie-
len. Wahrlich, Graf Bismarck Hal sich wohl selbst niemals die Frage
vorgelegt, ob seine Politit liberal oder konservativ im Sinne der Parteien
sei, aber er w->r sich bewußt, daß er nationale, daß er preußische Politik treibe."
— In der Allg. Zeitung schildert ein sächsischer Offizier die bundeSge-
nossiche und kriegsfrcudige Stimmung, mit welcher sich das sächsische Corps
der österreichischen Armee angeschlossen, die Enttäuschungen welche e»
während des Feldzugs erlitten und den schließlichen Umschlag der militä-
rischen und politischen Stimmung der Offiziere sowohl wie der Solda-
ten. „Man sah, heißt eS, — und es ist wunderbar wie scharf und rich-
tig der sächsische Soldat hierbei urtheilte — daß die bisherigen Hoffnungen
und die bisherigen Ideen, daß „das große einige Deutschland" aus dem
visherigen Weg eine Chimäre bleiben mußten. Die Zwietracht im öster-
reichischen Völkergewimmcl und die Unschlüssigkeit, wie dasselbe zu irgend-
einer Einheit konstituirt werden most te, das Widerstreben der Erneu gegen
die Plane und Interessen der Andern öffnete Allen die Augen. „So ist
e« nichts," konnte man aus jedem Mund hören, und die Zahl derer die
anders redeten, verschwand vollständig. Mit dieser Erkenntniß trat der
Haß gegen Preußen zurück; Jemand muß ander Spitze stehen; der Bund
hat schmählich Schiffbruch gelitten — also bleibt Preußen." —-
„Noch ein Element aber wird mir entscheiden: die Art wie Preußen
sein Regiment führen wird. Legt es Allen die so zu ihm gravilnen, ein
drückendes Joch auf, dann wird nicht nur der Süddeutsche sagen: da«
Paßt mir nicht, sondern auch der Deutsch-Oesterreicher wird das Ucbel,
daS er hat und kemtt, dem unbekannten vorziehen. Führt eS sein Regi-
ment straff zwar, aber gerecht, verletzt es nicht wa« Achtung verdient,
bändigt es den empörenden Uebermuth der Einzelnen — dann mag es
kecklich auf einen Zuwachs rechnen, der seine jetzigen Erwerbungen in den
Schatten stellen dürfte. Ein starkes Regiment will man, denn man hat
zur Genüge an der Schlaffheit und Zerfahrenheit: aber Mensch bleiben
mit menschlichen Rechten will man auch."

Verlag der Erpcdition des Wochenblatt« des Nationalvereins. — Rcdigin unter Verantwortlichkeit von K. Schwab in Heidelberg.
Druck von G. Mohr in Heidelberg.
 
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