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Deutscher Nationalverein [Hrsg.]
Wochen-Blatt des National-Vereins — 1866/​1867 (Nr. 69-123)

DOI Kapitel:
No. 81 - No. 84 (6. Dezember 1866 - 27. Dezember 1866)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43377#0119
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631

noch einiges Interessante aus der letzten Wahlbewegung, welche
im Lauf dieser Woche zu Ende gehen wird, mitthcileu.
Das Ministerium Dalwigk, welches zwar die reaktionär-
sten Werkzeuge, aber unter „conservativ-libcralcr Maske", als
Candidatcn zum Landtage aufstelltc, fand seine Hülfe positiv
bei den Ultramontanen und passiv bei — vielen
Mitgliedern der Volks Part ei. Die Ultra montan en
setzten die Wabl ihrer Candidatcn, Gehciinerath Seitz, Ober-
gerichtsrath von Saugenfcld, Bezirksgcrichtsrath Röder,
Oberstudiendirector Kitzler, Landrichter Schäfer, Bürger-
meister Scib und — unerhört aber wahr — des Wiener
Gesandten, Heinrich von Gagern, durch, und zwar in ganz
katholischen, oder mindestens gemischten Bezirken, wobei die
protestantischen Bürgermeister, Kreisräthe u. s. w. für die
Ultramontanen arbeiten mußten. Einzelne Volksparteimäumr,
namentlich aber dic Hessische Landeszeitung, das
ehemalige Organ der Fortschrittspartei, schadeten durch
das Aufhctzen mancher minder Kundigen, während cin anderes an-
erkanntes Parteiorgan fehlte. Erfreulich war es aber, daß
dic Hessische Fortschrittspnrtci im Großen und Ganzen uuer-
schüttcrt fcsthiclt und daß z. B. das Landsbergprogramm vom
28. Oktober l. I. mit etwa 80 gegen nur drei Stimmen
angenommen wurde. Demgemäß scheiterte der Versuch des früheren
Ausschußmilglieds des Narionalverctns, des Herrn Preeto-
rius in Alzey, einen eigenen für dcnSüdbund kämpfen-
den Candidatcn aufzustellen, kläglich, indem er in zwei Ver-
sammlungen unter den 150—200 Urwählern nur Eine
Stimme gewann. Nur in Mainz entspann sich ein
harter Kampf zwischen den für den Anschluß an den Nord-
dcuischcn Bund kämpfenden Wählern, mit Metz als Candidatcn,
und zwischen der mit Einrede gegen den bedingungslosen
und sofortigen Anschluß stimmenden Partei.
Im Ucbrigen kann die diesmalige Wahlbewcgung, bei
welcher die unerhörtesten Wahlmanövrcs der Conservativ-Li-
beralen stattfandcn, nicht ohne nachhaltigen Einfluß auf die
in und nach dem Bürgerkrieg dieses Sommers gehetzte Masse
bleiben.
Die Erscheinung, daß beinahe ausnahmslos alle Bürger-
meister, Abgeordneten, Gcnsdarmen, Polizei-, Amts- und Ge-
meinde-Diener, Feld- und Forstschützen, bis herab zu den
ärmsten Holzhackern, für die ministeriellen Candidatcn
stimmten, hat deren Abhängigkeit auch dem Blindesten
klar gemacht. Ebenso blieb nicht unbeachtet, wie alle Bahn-
und Brückenwärter, Zoll-, Steuer- und Postbeamte zur Wahl-
urne commandirt wurden. Daß selbst Präsidenten von Ge-
richtscollegicn fragten, ob die Herren Räthe schon ihre Ab-
stimmungspflicht erfüllt hätten, daß Militärärzte, unter der
Bezeichnung „M ilitärdienstsache", durch „O rdon n a n z"
den „konservativ-liberalen" Wahlzcttel zum Abstimmen er-
hielten, daß endlich überall beinahe nur Anhänger der Re-
gierung als Urkundspersonen mitwirktcn — in Darmstadt
waren z. B. zehn Wahlmännereandidatcn der Konservativ-Li-
beralen Urkundspersoncn — Alles das ist ein öffentliches Ge-
heimnis. Ertralokomotivcn wurden telegraphisch beordert, Bahn-
arbeiter zur Wahlurne zu befördern, und das in Babenhausen
stationirte stimmberechtigte Militär wurde per Eisenbahn —
auf westen Kosten wohl? — nach Darmstadt zur Abstimmung
übergefühet. Chausseen, Eisenbahnen, Gerichtssitze wurden
nach Umständen verheißen oder zu entziehen gedroht. In einem
Bezirke Oberhessens ist der Schwiegersohn des Bürgermeisters
durch eine Reihe von Zeugen sogar auf der That ertappt,
einen im Lesen und Schreiben unerfahrenen Wähler, statt des
verlangten Wahlzettels der Fortschrittspartei, andere Namen
untergeschoben zu haben, und gehen wir in dieser Beziehung
dcmnächstigen interessanten Gerichtsverhandlungen entgegen.
Auf der andern Seite arbeitete die Fortschrittspartei — frei-
lich aus eigenen Mitteln und nicht aus dem Staatssäckel —
gleichfalls an den meisten Orten sehr eifrig. Tausende wurden
für Flugschriften verausgabt und in Darmstadt allein, wo
der Hauptkampf und wo die Schwierigkeiten, wie die gegen-
seitigen Kräfte, am stärksten, fanden acht Tage lang jeden
Abend gleichzeitig zwei Volksversammlungen, an zwei Tagen

aber gleichzeitig drei Volksversammlungen statt, wobei diejenige
der Fortschrittspartei stets von vielen Hunderten besucht war
und Flugschriften aller Art vcrthcilt wurden. An den
Wahltagen selbst waren viele Dutzende der angesehensten zur
Fortschrittspartei gehörigen Bürger thätig, von Laus zu Haus
die Wahlberechtigten zur Hebung ibrcö Wahlrechts aufzufor-
dern, nachdem zweimal brieflich zur Wahl cingeladen und
hiebei, neben andern Schriften, der Wahlzettel übersandt
war. Da auch die „Conservativ-Liberalen" ihre Zettel brief-
lich versendeten und über 4000 Wahlberechtigte in Darmstadt
wohnen, gingen der hiesigen Post zuerst die Kreuz ercou-
vcrte uud später auch die Kreuzermarken aus und
mußte die Fortschrittspartei sich zweitausend Stück Krcuzer-
couverte aus Frankfurt durch Erpressen holen lassen. Es
wurden im Ganzen für Darmstadt allein etwa zwölftau-
scnd Kreuzercouverte verbraucht. Die Briefe gingen
in großen Waschkörben, theilweise nach Straßen geordnet, bei
der hiesigen Post cin, und diese mußte sich für die Wahl-
tage eine große Verstärkung an Hilfbriefträgern verschaffen.
Gegen 3300 Wahlberechtigte, also weit über S/4 haben in
Darmstadt abgestimmt; davon gehört der Fortschritts-
partei Ein Drittel, offenbar die wohlhabendste Einwohner-
schaft, der Kern der Bürger. Denn unter den 3300 Wählen-
den waren etwa 1500 Staats-, Hof-, Militär- und
städtische Beamte!!!
Sobald das gesammtc Wahlergcbniß des Landes vorliegt,
wird eine genaue Zusammenstellung des Erfolgs gegeben
werden; heute genüge die Angabe, daß die Fortschrittspartei
von 42 Wahlbezirken nur 15—18 erlangen wird, während
die übrigen 24—27 Wahlkreise theils von unbedingt will-
fährigen Regicrungswerkzeugen, theils von Halbliberalen oder
ganz unbekannten und daher bis jetzt unberechenbaren Abge-
ordneten vertreten sein werden. In der deutschen Frage, d. h.
der Frage des Anschlusses an den Norddeutschen Bund, und in
den mit der Maiuz-Darmstädter Convention zusammenhängenden
Punkten möchte aber die Mehrheit sich entschieden für den
Anschluß und gegen dic Convention erklären.
Als mehr spaßige Ergebnisse unsres vorsündfluthlichen
Wahlgesetzes, wonach z. B. in Darmstadt jeder Urwähler
die Vor- uud Zunamen sowie den Stand von 56 Wahl-
mannscandidaten, in Mainz gar von 84 Candidatcn, also
252 Worte mindestens, im Wahllokal auf dort
empfangene Zettel entweder selbst schreiben, oder durch beei-
digte und vom Staat bestellte Schreiber schreiben lassen muß,
mögen hier folgende Notizen Platz finden.
In Offenbach stimmten, bei der zuerst anberaumtcn
Wahl, während der drei Wahltage nur drei Personen, in
Mainz während der vier Wahltage nur Eine Person ab,
weil mau im Voraus das Nichtzustandckommen der ersten
Wahl wußte, und doch mußte das ungeheure Urkundspcrsonal
nutzlos und ohne Beschäftigung beisammen bleiben.
In Darmstadt hat man beobachtet, daß unter zwanzig
Minuten auch der fliukestc Schreiber seine Wahlzettel nicht
schreiben kann, während der Herr Justizminister z. B. — nach-
dem er vergeblich einen Schreiber gewünscht hatte, da diese
augenblicklich alle sonst beschäftigt waren — 32 Minuten
zu seinem Zettel brauchte.
Die loyalsten Hofmarschälle, Generale, Kammcrherrn und
sonstige Erccllenzen verfluchten das Wahlgesetz, welches sie, den
verwünschten Fortschrittlern gegenüber, zwang, an zwei ver-
schiedenen Tagen in sehr gemischter Gesellschaft eine halbe
Stunde mit Schreiben zu verbringen und Arm an Arm,
Seite an Seite u. s. w. mit bürgerlicher Kanaille aller Art
einen „staatsbürgerlichen Wahlakt" zu vollziehen.

Preußische Landtagsbriefe.
V.
Berlin, 16. Dezember. Am 21. November hat dieVor-
berathung des Budgets begonnen; am 14. Dezember ist sie
 
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