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Zeitschrift für christliche Kunst — 12.1899

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Prill, Joseph: In welchem Stile sollen wir unsere Kirchen bauen, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3944#0162

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1899. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.

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Gallerien, Blendarkaden, gekuppelte Fenster-
anlagen und Rosetten — nur nicht bis zur
Verflüchtigung der Zwischenmauern; auch hier
bereits eine kräftige Bewegung nach oben, eine
entschiedene Höhenentwicklung, nur kein so
athemloses, leidenschaftliches, ungestümes Em-
poreilen aller Glieder, sondern ein mafshaltendes,
besonnenes, zielbewufstes, sich selbst bescheiden-
des Aufstreben."

„DieseUnterschiede mögen dem romanischen
Stil seinen Rang nach dem gothischen an-
weisen, aber sie begründen den selbstständigen,
durchaus gesunden und tüchtigen Charakter des
ersteren, kraft dessen er neben dem gothischen
sich voll behaupten kann; ihnen dankt der
romanische Stil etwas, was dem gothischen ab-
geht, jedenfalls nicht in diesem Mafse zukommt:
Die monumentale Ruhe, die getragene Würde,
den majestätischen Ernst, die mafshaltende Ein-
fachheit und Bescheidenheit. Er dankt das
hauptsächlich jener Lebenswurzel, durch welche
er mit dem Boden der altchristlichen Archi-
tektur und damit mit dem Boden der altklas-
sischen Kunst .verbunden, ist."

Dann wird ferner darauf hingewiesen, wie
der romanische Stil „so gut den Charakter
des Christenthums abprägt wie der gothische,
nur nach einer anderen Seite und in einer
anderen Weise. Ist die Gothik mehr das Ab-
bild der lichten, tröstlichen, erhebenden Momente
des Christenthums, so wird die Romanik zum
steinernen Symbol seiner ernsten, furchtbaren,
beugenden, erschütternden Wahrheiten. Spricht
die Gothik mit tausend Zungen zur Phantasie
und erst durch die Phantasie zu Verstand und
Herz, so redet der Lapidarstil der romanischen
Formensprache erschütternd zum Gemüth und
Willen. Predigt die Gothik: Sursum corda, so
ruft die Romanik: Humiliate capita vestra Deo,
predigt die Gothik Aufstreben zum Himmel,
Emporhebung des Erdenlebens in lichte Höhen
der Verklärung, so predigt die Romanik Bufse,
Verdemiithigung, Einkehr in sich selbst, Unter-
werfung unter die Auktorität des Glaubens und
der Kirche, Abtödtung, Entsagung als einzigen
Weg nach oben und zum Heile."

Ein empfängliches Gemüth wird — um an
die zuletzt wiedergegebene Erwägung anzu-
knüpfen — zweifellos' einen ganz verschiedenen
Eindruck von den verschiedenen Bauwerken
in sich aufnehmen: hier wird es sich freudig
gehoben, dort zu ernsten Gedanken angeregt

fühlen, hier mag es sich frei und fröhlich auf-
schwingen zu Cot'» d°rt demüthiger Bufsge-
sinnung Raum geben. Ob aber dies alles einzig
oder auch nur vornehmlich auf Rechnung des
Stiles zu setzen ist? Wird nicht eben so sehr,
vielleicht noch mehr, die Eigenart, sagen wir:
die Individualität des Monumentes — sei es
nun romanisch oder gothisch — die innere
Ausstattung, das Licht, ja auch die Umgebung
und Zeit, eine Reihe von zufälligen Umständen
und endlich nicht zum wenigsten die Gemüths-
verfassung, mit welcher der Besucher die Kirche
betritt, für die Stimmung, welche das Bauwerk
in ihm weckt, von entscheidender Bedeutung
sein? Es sind das Imponderabilien, aus denen
sich — mag man noch so sehr ihre Berechti-
gung anerkennen — schwerlich ein zuverlässiger
Mafsstab für unsre Frage gewinnen läfst. Aber
wenn wirklich das Bauwerk an sich eine so
deutliche Sprache redete, sollten wir dann der
einen Gemeinde Tag für Tag Humiliate capita
vestra predigen lassen, während der andern aus
den Steinen des Gotteshauses täglich ein Sursum
corda entgegentönte? Wir möchten dann lieber
das Letztere wählen, wie ja auch die Kirche
alle Tage des Jahres Sursum corda singt, aber
nur zu gewissen Zeiten den Gläubigen Humiliate
capita zuruft.

Auch die Darstellung der Vorzüge des
romanischen Stils gegenüber der Gothik fordert
Widerspruch heraus; denn die Uebertreibungen,
welche der letztern vorgeworfen werden, sind
keineswegs dem Stile als solchen eigen, sondern
finden sich nur in einzelnen Werken der Spät-
zeit, wo Lust an Uebertreibung und Willkür
sie veranlasst haben. Oder wird denn wirklich in '
der Gothik überhaupt der Unterschied zwischen
tragenden und getragenen Gliedern aufgehoben ?)
wird denn wirklich die Horizontale ganz aufser
Kraft und Wirkung gesetzt? eilen denn wirklich
die Vertikalen so unruhig zur Höhe empor?
so athemlos, leidenschaftlich, ungestüm, dafs
der romanische Stil demgegenüber das Bild
des mafshaltenden, besonnenen, zielbewufsten
Aufstrebens darbietet?

Rühmen doch die Kunstforscher gerade an
der Gothik, dafs sie die gleichförmigen Massen
in ein System von tragenden und getragenen,
haltenden und gehaltenen Gliedern auflöse,
dafs sie das Baugerüste in seiner konstruktiven
Bedeutung vor den blofs füllenden und ab-
schliefsenden Wänden hervorhebe und seine
 
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