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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 32.1933

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Heft 5
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Valéry, Paul: Abschweifung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7617#0209

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Abschweifung

von PAUL VALeRY. Übersetzt von MAX LIEBER MANN
Anmerkung der Redaktion:

Mit dieser »Abschweifung* beendet der berühmte französische Schriftsteller eine Studie,
der er den Titel „Triomphe de Manet" gegeben hat. Das Buch ist als Ausgabe der
Musees Nationaux in 450 numerierten Exemplaren gedruckt und den vorzüglichsten
Verehrern Manets überreicht worden. Der Untertitel .Tante Berthe" nimmt Bezug aus
den Beitrag Valerys zum Katalog der vorjährigen Manet-Ausstellung. Tante Berthe ist
die bekannte Malerin des Impressionistenkreises Berthe Morisot Wir drucken diesen
Schluß aus Valerys Buch ab, weil er nicht nur wertvoll ist als das Glaubensbekenntnis
des Verfassers, sondern auch als das der Künstler vom Ende des neunzehnten Jahrhun-
derts: es ist das mit Geist geschriebene Bekenntnis zu einem Naturalismus im Sinne
Goethes und im Sinne des Goethewortes: „Das wahre Ideale ist das Reale."

„Man meint von altersher, daß es ein inneres Eeben gibt, von dem die sinnlichen Dinge
ausgeschlossen sind, dem Geruch, Farben, Bilder, vielleicht sogar die Ideen hinderlich
sind und an seiner Vollendung stören. Die Wesen, die sich darin verzehren, sollen das
Verlangen nach dem heimlichen Verkehr mit ihren nicht mitteilbaren Vorstellungen um
so lebhafter empfinden und um so bessere Frucht daraus ziehen, je mehr sie in die Tiefen
dieser Vorstellungen eindringen, je mehr sie sich vom Äußeren oder von dem, was man
*ür das Außere hält, losgemacht haben.

Dem Eeben, das sich bestimmter Sinne zwar bedient, sich aber sonst mit seinen Phantasmen
begnügt, stellt man ein gewisses Herzens- und Seeleuleben oder ein reines Verstandesleben
zur Seite; eines wie das andere bewahrt vor jener oberflächlichen Aufregung, die sich
aus dem Berühren und Sehen zusammensetzt Bei manchem Weisen findet sich die
klar ausgedrückte Meinung, daß die Sinne Mitschuldige des Gegners und die wich-
tigen Organe ihre Kuppler wären. Odoratus impedit cogitationem — der Geruch behindert
das Nachdenken, sagt der heilige Bernhard. Ich bin nicht so sicher, daß das Denken bei
verschlossenen Türen und daß innere Absperrung stets unschuldig sei, daß sich der
Isolierte immer in Reinheit vertiefe. Wenn sich aus Versehen irgendein Verlangen in
die innersten Zulluchtstätten mit der Seele eingeschlossen findet, so kann es sich, wie
U> einem Treibhause, zu unglaublicher Wollust und Raserei entwickeln.
Aber diese den Sinnen feindliche Doktrin — wenn sie auch allgemein angenommen ist und
sich auf Sehr große Männer beruft — ist doch nicht so solide, daß man nicht für einen Augen-
Mick an einer ihr entgegengesetzten Gefallen finden oder sich einmal mit ihr unterhalten
konnte. Warum sollte der Grund, angeblich unser eigener Grund, der Schein von Grund,
den wir in uns selbst durch merkwürdige Zufalle oder durch unendliche Aufmerksamkeit
finden, der Beobachtung wichtiger sein — wenn wir ihn überhaupt nicht etwa erst durch
Suchen schallen als das Antlitz dieser Welt? Was wir so ganz allein, so ungewiß,
n»t großer Mühe und durch Zufall oder Schwindel erlangen, ist es notwendig wissens-
werter, würdiger, unsern (irundgelicimnissen näher als das, was wir deutlich und bestimmt
»ehen? Et

nicht vielmehr der Abgrund, wohinein sich der unbeständigste, der leicht-
gläubigste unserer Sinne verirrt, das Produkt unserer vagsten Eindrücke, da deren Zu-
fustung verworren und von Präzision und Ordnung am weitesten entfernt ist gegenüber
K'iien anderen, denen das, was wir die äußere Welt nennen, das Meisterstück bedeutet?
W'r entwürdigen die Sinnenwelt, die uns mit ihren Vollkommenheiten überschüttet.

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