Wenn man aber heute
durch die vom Kriege zer-
störten Städte dieses Lan-
des geht, sieht man allent-
halben die Kathedralen der
Gotik wie Wunder sicht-
barer denn je als Zeugen
einer ferneren, aber größe-
ren Vergangenheit sich
erheben. Vor ihnen wir-
ken die Trümmer wie ein
Symbol für die Hinfällig-
keit eines ganzen Zeit-
alters. Mit welchen Gefüh-
len hätten Victor Hugo
oder Rodin diesen stau-
nenswerten Anblick erlebt!
Aber es soll nie vergessen
werden, wie die fast un-
glaubliche Rettung der
großen Baudenkmäler in-
mitten der Zerstörung
möglich war. Wohl mag
die wunderbare Präzision
derWaffen undihrerHand-
babung das äußere Mittel
dazu gegeben haben; aber
ausschlaggebend ist, daß
der vom Geist einer besse-
ren Zukunft beseelte deut-
sche Soldat, dessen Blick
nie durch blinden Haß ge-
trübt war, sich zur selbst-
verständlichen Ehrfurcht
vor geistiger Größe auch
in Feindesland verpflichtet
fühlte. Möge Frankreich
darum in den ragenden
Wundern der Gotik zu-
gleich den Geist seiner
eigenen großen mythi-
schen Vergangenheit und H. Amersdorffer. Kathedrale von Rouen
den neuen Geist einer über
Europa hereinbrechenden
Zukunft erkennen lernen.
Die Beispiele sind zahlreich, und ihre Wiederkehr über dem allzuweit ausgeholten Zuge des übermäch-
hat etwas Gesetzmäßiges, das kaum gestört wird. tigen Baues den Werkleuten der Atem ausging, steht
Wohl wollten die Baumeister, die einst Einzelfassa- in seiner unberührten Unvollendetheit um so ge-
den und Straßendurchsichten sinnvoll aufeinander schlossener da, den schaurigen Wald der Schornsteine,
abstimmten, nie, daß ihr Werk in seiner Gesamtheit die von der ausgebrannten Stadt fast allein stehen-
so offen dem Blick preisgegeben würde, doch gerade geblieben sind, wuchtig überragend,
die lebendige Vielfalt dieser wahrhaft gewachsenen So setzt sich die lange Reihe an vielen Orten fort.
Bauten zaubert immer neue Bilder, ja selbst der Was ich auf meiner ersten Fahrt durch Frankreich
Charakter der Trümmerfelder ist bei aller schein- davon sah, rief den Gedanken wach, welche ernste
baren Eintönigkeit noch unterschiedlich. In Rouen und würdige Aufgabe es für einen Maler sein müsse,
wächst die Kathedrale schwer und dunkel aus den diese tiefsinnige Zwiespältigkeit zwischen Zertrüm-
weißlichen Steinhügeln, die mit wenigen stehenge- merung und Unversehrtheit, diese ungeheuerliche
bliebenen Mauerkulissen durchsetzt sind, turmreich Scheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem zu
bis zur himmelhohen Spitze über der Vierung auf. bildhaften Zeitdokumenten zu formen. Es ist mir
Amiens schwebt mit seiner geschlossenen Form und vergönnt gewesen, mich im Auftrage der Wehrmacht
seiner überreichen kraftvollen Fassade einem Schiff dieser großen Aufgabe zuwenden zu dürfen,
gleichend über der zerstörten Stadt. Beauvais, wo
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durch die vom Kriege zer-
störten Städte dieses Lan-
des geht, sieht man allent-
halben die Kathedralen der
Gotik wie Wunder sicht-
barer denn je als Zeugen
einer ferneren, aber größe-
ren Vergangenheit sich
erheben. Vor ihnen wir-
ken die Trümmer wie ein
Symbol für die Hinfällig-
keit eines ganzen Zeit-
alters. Mit welchen Gefüh-
len hätten Victor Hugo
oder Rodin diesen stau-
nenswerten Anblick erlebt!
Aber es soll nie vergessen
werden, wie die fast un-
glaubliche Rettung der
großen Baudenkmäler in-
mitten der Zerstörung
möglich war. Wohl mag
die wunderbare Präzision
derWaffen undihrerHand-
babung das äußere Mittel
dazu gegeben haben; aber
ausschlaggebend ist, daß
der vom Geist einer besse-
ren Zukunft beseelte deut-
sche Soldat, dessen Blick
nie durch blinden Haß ge-
trübt war, sich zur selbst-
verständlichen Ehrfurcht
vor geistiger Größe auch
in Feindesland verpflichtet
fühlte. Möge Frankreich
darum in den ragenden
Wundern der Gotik zu-
gleich den Geist seiner
eigenen großen mythi-
schen Vergangenheit und H. Amersdorffer. Kathedrale von Rouen
den neuen Geist einer über
Europa hereinbrechenden
Zukunft erkennen lernen.
Die Beispiele sind zahlreich, und ihre Wiederkehr über dem allzuweit ausgeholten Zuge des übermäch-
hat etwas Gesetzmäßiges, das kaum gestört wird. tigen Baues den Werkleuten der Atem ausging, steht
Wohl wollten die Baumeister, die einst Einzelfassa- in seiner unberührten Unvollendetheit um so ge-
den und Straßendurchsichten sinnvoll aufeinander schlossener da, den schaurigen Wald der Schornsteine,
abstimmten, nie, daß ihr Werk in seiner Gesamtheit die von der ausgebrannten Stadt fast allein stehen-
so offen dem Blick preisgegeben würde, doch gerade geblieben sind, wuchtig überragend,
die lebendige Vielfalt dieser wahrhaft gewachsenen So setzt sich die lange Reihe an vielen Orten fort.
Bauten zaubert immer neue Bilder, ja selbst der Was ich auf meiner ersten Fahrt durch Frankreich
Charakter der Trümmerfelder ist bei aller schein- davon sah, rief den Gedanken wach, welche ernste
baren Eintönigkeit noch unterschiedlich. In Rouen und würdige Aufgabe es für einen Maler sein müsse,
wächst die Kathedrale schwer und dunkel aus den diese tiefsinnige Zwiespältigkeit zwischen Zertrüm-
weißlichen Steinhügeln, die mit wenigen stehenge- merung und Unversehrtheit, diese ungeheuerliche
bliebenen Mauerkulissen durchsetzt sind, turmreich Scheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem zu
bis zur himmelhohen Spitze über der Vierung auf. bildhaften Zeitdokumenten zu formen. Es ist mir
Amiens schwebt mit seiner geschlossenen Form und vergönnt gewesen, mich im Auftrage der Wehrmacht
seiner überreichen kraftvollen Fassade einem Schiff dieser großen Aufgabe zuwenden zu dürfen,
gleichend über der zerstörten Stadt. Beauvais, wo
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