Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 8.1910

DOI Heft:
Heft 4
DOI Artikel:
Jolles, André: Tanzstudien
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3548#0227

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
bei den heulenden Derwischen im Orient betrachten,
wo sie gleichfalls religiös-medizinischen Zwecken
dient. Diese fast wahnsinnige Gebärde kann aber
zur wirklichen Kunst werden. Die Bewegungen
verlieren dann das Hysterische, werden regel-
mässiger, mehr ausgeglichen und verschönern sich
sozusagen zum Symbol der früheren Krämpfe. Und
nun kommen neue Elemente hinzu, die den Tanz
über das einfache Stilisieren einer natürlichen Be-
wegung oder Gebärde hinausführen, Elemente, die
ihn zu etwas Abstrakterem, Höherem, zur Architek-
tur mit lebendem Material machen, Elemente der
konstruktiven Schönheit. Das Bein wird empor-
gehoben, um den nach vorn und nach hinten ge-
schwenkten Körper im Gleichgewicht zu halten.
Die Arme treten begleitend und vermittelnd in
fhätigkeit, das Ganze wird ein rhythmisches Ge-
füge von Bewegungen. Bei unseren Tänzerinnen
ruht der oben zurückgebeugte Körper nur auf dem
fest auf Hacke und Zehen aufgestützten Bein; damit
aber die Gestalt bei dieser einzigen Vertikale
nicht zu schwebend erscheint, hängt vom Hinter-
kopf senkrecht der Zopf herab, beschwert mit
einer Kugel. Alles ist konstruktiv berechnet und
zu gleicher Zeit in herrlichem, leidenschaftlichen
Schwünge, um so schöner, da wir es fünfmal ganz
gleich wiederholt sehen. Kein wackelndes Drehen
mit dem hochgehobenen Fuss, keine quasi elegante
Rundung von Handgelenk oder Finger, Weichheit
und Streckung, Grazie und Sicherheit, Gefälligkeit
und Strenge, bewusste Linie.

So können wir denn von La Goulue ausgehend
vieles in dem alten Tanz erklären, andererseits aber
in den ägyptischen Figuren Einiges finden, das uns
zeigt, wie ein Tanz, wie der Chahut entstanden ist.
Doch wie man die Sache auch drehen mag, der
Vergleich fällt, was die Schönheit anbetrifft, zu
unserm Nachteil aus und wir kommen uns selbst
immer einer solchen Kultur gegenüber ziemlich
grob und barbarisch vor.

Auch wo es Körperkultur gilt! Wer sich das
ägyptische Frauenleben vorstellt wie einen schwülen
Harem aus einem schlechten Roman, irrt sich nicht
weniger als wer ägyptische Tänzerinnen vergleichen
Wollte mit den Damen eines modernen Corps de
Ballet. Freie, natürliche Bewegung und Sport in
der Sonne und im Licht bildeten damals die Grund-
lage für das Spiel der Glieder. Wir lesen von
einem König, der trübsinnig war und dem sein
oberster Vorleser, — er war im Nebenamt Magier,
" folgenden Rat gab: „Deine Majestät begebe sich

doch zum See des Palastes und besetze dir ein Boot
mit allen schönen Mädchen deines Palastes. Das
Herz deiner Majestät wird sich erheitern, wenn du
siehst, wie sie heraufrudern und herunter, wenn
du die schönen Sümpfe deines Sees siehst, und
wenn du seine schönen Felder und Ufer siehst, so
wird dein Herz sich erheitern. Ich will aber Leiter
der Fahrt sein. Lasse mir zwanzig Ruder aus Eben-
holz bringen, die mit Gold ausgelegt sind und
deren Griffe aus Sekebholz sind, das mit Electron
ausgelegt ist. Lasse mir zwanzig Frauen bringen
von denen mit dem schönsten Körper, mit Brüsten
und Locken, und die noch nicht geboren haben,
und lasse mir weiter zwanzig Netze bringen und gib
diese Netze diesen Frauen als ihre Kleider usw."

Ein Märchen, aber mit Zügen der Wirklich-
keit entnommen. Unsere fünf Mädchen Beweisen
es. Bei diesen gesunden, wohlgebildeten Körpern
mit ihren reinen Proportionen sehen wir, wie ein
richtiges Ebenmass zwischen Tanz und Sport,
zwischen musikalischem und gymnastischem Rhyth-
mus zustande kommt.

Und die Art, wie der ägyptische Künstler das
wiedergab ? Wir wollen gewiss nichts Böses sagen
von den französischen Bildern, die wir neben den
Ägypterinnen abbilden; aber liegt nicht etwas Un-
befriedigendes, etwas Zweckloses in der Wieder-
gabe des rein Malerischen bei einem rhythmisch
bewegten Körper, und ist, wenn wir doch Bewe-
gung durch Stillstand darstellen wollen, die deko-
rative Ausdrucksweise nicht viel wirkungsvoller.
Man hat einer grossen Tänzerin mit Recht vor-
geworfen, dass es töricht sei, Etwas, was als Musik
gedacht ist, durch einen instinktiven Tanz wieder-
geben zu wollen; ist es aber nicht ebenso töricht,
was als Tanz gedacht ist, nach dem Eindruck
eines Augenblicks malen zu wollen? Nur wer die
gemeinschaftlichen Gesetze für zwei Künste kennt,
kann die eine in die andere übersetzen. Der Ägyp-
ter wusste dieses von Anfang an, konstruktiv war
sein Tanz, konstruktiv seine bildende Kunst und
auf dieser gemeinschaftlichen Basis gab er die eine
durch die andere wieder. Wer spricht von unge-
nügenden Ausdrucksmittcln, von mangelnder Per-
spektive, von kindlicher Anschauung und welche
sonstige Termini technici unkünstlerische Kunst-
historiker als Charakteristica der ägyptischen Kunst
erfunden haben: Jedes geschmackvolle Auge fühlt,
dass hier etwas Höheres vorliegt, Etwas von einem
überlegenen Bewusstsein, das unserer eigenen Zeit
fehlt.

ZIJ
 
Annotationen