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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 8.1910

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Heft 4
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Kunstausstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3548#0237

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und schöner Tonalität; und in der kompositionellenErfin-
dung ist zumeist eine krampfhafte Trivialität. Unter
den Freunden seiner Lehre sind stärkere Naturelle und
begabtere Erfüller als er: Othon Friesz (der diesmal
keinen „Salon" hat, weil er sein Werk der letzten Jahre
einer besonderen Ausstellung vorbehält), Jean Puy,
Pierre Laprade, Albert Marquet, Charles Guerin, K. van
Dongen, Manguin, Camoin und de Vlaminck. Es ist
ein so erfreuliches wie interessantes Schauspiel, jede
dieser Persönlichkeiten auf eigene Art das Gleichgewicht
zwischen Form und Farbe sicher und kräftig herstellen
zu sehen. Die Dinge haben lineare Gewalt und doch alle
schimmernden, klingenden Reize der Oberfläche. Als
schwebend feste Masse stehen Struktur und farbige
Stofflichkeit im Raum, in Luft und Licht. Die alte gute
französische Tradition ist wieder gefunden, die in der
malenden Kunst als ehernes Gesetz den Einklang von
zeichnerischer Festigkeit und Farbenschönheit sah. Ein
wichtiger Schritt ist hier über den Impressionismus
hinausgetan.

So ist der siebente Herbstsalon ein Gewinn, auch
wenn „Zugstücke" (wie im vorigen Jahre Rene Piots
Monumentalwerk von den Leidenschaften, vom Werden
und Vergehen der Menschheit) fehlen. Anderseits ist die
Satzung genau befolgt,
verkannte oder in gewis-
ser Richtung nicht er-
kannte Ahnen franzö-
sischer Kunst sowie
Wegebahner von heute
durch retrospektive Aus-
stellungen zu ehren. Nun
tritt Corot, der Figuren-
maler, in die Beleuch-
tung, die ihm gebührt. Er
war übersehen worden,
zuerst von den akademi-
schen Korrektheitsfana-
tikern, dann von dem
realistischen Kunstbe-
trieb seiner eigenen
Epoche und der Folge-
zeit; jetzt nimmt er
seinen Platz neben den
grossen Schilderern des
Menschen ein: Millet,
Daumier, Courbet und
Manet. Die schmiegsame
Weichheit seines Natu-
rells berief ihn zum poe-
tischen Schilderer der
Frau. Die Nymphen und
Najaden und verklärten
Schäferinnen hatte man
früher als angenehmes
romantisches Beiwerk jean puy, la comparaison

der Landschaften mit hingenommen. Losgelöst von
ihrem umfassenderen Zwecke, die Natur sichtbar zu
beleben, dazu bestimmt, ihr eigenes Leben zu führen,
in menschlicher und malerischer Schönheit, hatten diese
Figuren als zu simpel und zu wenig kunstgerecht nur
ein geringes Interesse gefunden. Nun aber zeigt es
sich, was für ein Seelenkenner dieser Corot, und wie
scharmant sein Geschmack war. Er malte auch hier mehr
seine Empfindung von den Dingen als die Dinge selbst;
eine gewisse Idealisiertheit liegt über seiner mannig-
faltigen Reihe von Frauenbildern; doch dieser Idealis-
mus ist ohne jede abschmeckende Süße; es ist der Idea-
lismus einer starken malerischen Persönlichkeit, die mit
frommer Empfindung für ihren Beruf das Schöne segnet
da, wo es ihm, im wechselnden Weltbilde, zufällig und
doch gleichsam wie eine Bestimmung entgegentritt.

In gewissem Verstände ist auch Theophil Steinlen,
dessen fünfzigster Geburtstag den Leitern des Herbst-
salons Anlass gab, sein Lebenswerk als Ganzes aufzurollen,
ein Anbeter. Er zeigt die Hässlichkeiten des Lebens, die
bösen Instinkte und makabren Leidenschaften tiefstehen-
der Menschen, das Elend in seiner abschreckendsten Ge-
stalt, die Armut in ihrer bejammernswürdigsten Verfas-
sung, — aber wie er dies alles zeigt, das ist schön. Inder

künstlerischen Haltung
der ungezählten Blätter
zur französischen Sitten-
geschichte (die in ihrer
sozialkritischen Pointe
die Sittengeschichte aller
europäischen Völker ist)
steckt Grösse, aus ihrem
Geiste dringt ein rein-
liches und naives Moral-
bedürfnis, ein leiden-
schaftlicher Trieb, den
Gewalten, die das Schick-
sal der Enterbten mildern
könnten, die Augen zu
öffnen, die Gewissen in
Ilium und außer Uium
zuläuternund zu bessern.
Das Mitleid führt hier
den Griffel, ein Mitleid,
das parteilos und unten-
denziös ist, weil es einer
optimistischen Weltauf-
fassung dient und har-
monisch zugleich die tra-
gischen und komischen
Seiten der Lebensschau-
spiele sieht ....

Die Arbeit desHerbst-
salons am Werk der euro-
päischen Kunst ist bei
Deutschland angelangt.

AUSG. IM PARISER HHRBSTSAI.ON

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