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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 8.1910

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Heft 11
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Muthesius, Hermann: Städtebau
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https://doi.org/10.11588/diglit.3548#0544

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Erkenntnis des achtzehnten Jahrhunderts dem Ver-
kehr und der gewerblichen Produktion ganz neue
Möglichkeiten eröffnet waren, stürzte sich das
neunzehnte über Kopf in den Ausbau jener neuen
Produktionsmethoden, bei denen die Maschine aus-
schlaggebend ist, es überspann mit den neuen Ver-
kehrsmitteln, bei denen Dampf und Elektrizität
die animalischen Kräfte ersetzen, die ganze Erde.
Die Schranken, die früher die einzelnen Länder, ja
die einzelnen Städte voneinander getrennt hatten,
fielen, wir traten ein in das Zeitalter des internatio-
nalen Verkehrs, der Grossproduktion und des Welt-
handels. Alle Intelligenz wurde absorbiert durch
Aufgaben, die aus den neuen Verhältnissen erwuch-
sen; ein fieberhafter Eifer kam über die Menschheit,
Reichtümer wurden angehäuft, grosse Vermögen
entstanden. Aber Millionen von Menschen wurden
auch in unlösbare wirtschaftliche Abhängigkeit ver-
setzt. Es entstand das Riesenproletariat der Indu-
striezentren. Die Städte wuchsen ins Enorme und
niemand achtete darauf, in welcher Weise sie wuchsen.
In England gelangte die Entwickelung zuerst auf den
toten Punkt. Eine von der Regierung eingesetzte
Kommission stellte dort schon vor fünfundzwanzig
Jahren grauenhafte Zustände des Wohnungselendes
fest. Hunderttausende von Familien bewohnten je
ein Zimmer und hatten dabei noch Kostgänger und
Schlafburschen. Das moralische Niveau und der
physische Zustand dieser Bevölkerungsklassen war in
rapidem Sinken begriffen, es musste schleunige Ab-
hilfe geschaffen werden. In London entschloss man
sich, ganze Stadtviertel abzureissen und auf Stadt-
kosten mit neuen gesunden Wohnungen zu besetzen.
Der Erfolg war gering, denn die herausgetriebene
Bevölkerung siedelte sich in den angrenzenden Vier-
teln an und verseuchte diese. Die neuen gesunden
Wohnungen aber wurden zu teuer. Also musste
man nach anderer Richtung Rat suchen. Der Bau
von billigen Wohnungen in den Aussenbezirken,
die durch Schnellvcrkehrsmittel mit dem Innern
der Stadt verbunden wurden, schien ein Ausweg,
aber die Bevölkerung wollte nicht aus der Stadt
heraus. Diese schien ihr, trotz alledem, Vorteile zu
bieten, die sie draussen entbehren zu müssen fürch-
tete. Die Verlegung ganzer Industrien aufs Land
trat als ein weiterer, anfangs als utopistisch ver-
schrieener Gedanke auf. Seltsamer Weise schlug
er ein, wenn man auch sagen muss, dass Das, was
bisher zur Verwirklichung der Gartenstadt gethan
ist, nur ein Tropfen auf den heissen Stein sein kann.
Die Zustände sind heute noch so unhaltbar wie da-

mals, als das Problem angeschnitten wurde. Eins
nur ist sicher: es kann nur durch grosszügige Städte-
baupolitik gelöst werden.

In Deutschland, dem Lande der zartesten Re-
gierungsfürsorge für jeden einzelnen Staatsbürger,
war für die Entwickelung der Bebauung besser ge-
sorgt, ohne dass aber das ungesunde Zusammen-
drängen ganzer Familien in enge Stadtwohnungen
hätte verhindert werden können. Ja, nach den spe-
ziellen Berliner Landaufteilungsgrundsätzen, auf die
auch die Baupolizeivorschriften zugeschnitten sind,
ist die sonnenlose, licht- und luftarme Hinterhaus-
wohnung geradezu zum Typ für die mittlere und
ärmere Bevülkerungsschicht geworden. Dass das
Wohnungselend noch nicht an das der englischen
Grossstädte heranreicht, liegt vor allem an dem
späteren Einsetzen der industriellen Entwickelung
in Deutschland. Die Not ist aber auch in Berlin
gross genug; ein einziger Blick in das jetzt reichlich
bekannt gegebene statistische Material bringt dem
Laien Überraschungen, wie sie nicht grösser zu
denken sind.

Die staatliche Fürsorge war aber auch in anderer
Beziehung ungeeignet, das vorliegende Problem
zu lösen. Das Fluchtliniengesetz von 1875 erteilte
zwar den einzelnen Gemeinden die Befugnis,
Bebauungspläne vorzuschreiben, es nahm jedoch
keinerlei Rücksicht auf das eigentümliche Zu-
sammenwachsen von Ortschaften, wie wir es jetzt
rings um Berlin erleben. Hier stossen allerorten
Bebauungspläne aufeinander, die keine Beziehung
unter sich haben. Und alle die zu volkreichen Orten
gewordenen früheren Dürfer erstreben in ihrer
Bodenpolitikzunächstnichtsanderes,als ihren eigenen
Vorteil. Die Baupolizeigesetzgebung hat die Zu-
stände eher kompliziert. Denn infolge einer eigen-
tümlichen Bebauungsgeometrie, die bei der Ab-
staffelung der Bebauungsdichtigkeit eingeführt
wurde, entstehen heute plötzlich irgendwo im
freien Felde vierstöckige Mietskasernen nach echt
Berliner Muster. Da die Bodenpreisbildung im di-
rekten Zusammenhang mit der zugelassenen Be-
bauungsdichtigkeit steht, werden dadurch über
Nacht die Grundstückspreise der Berliner Bezirke
auf das vorortliche Kartoffelfeld übertragen. Rück-
gängigmachung ist schwierig, da mit dieser „wirt-
schaftliche Interessen" berührt werden würden.
Dabei stürmt die Entwickelung überall vorwärts.
Das steinerne Meer der Grossstadt schiebt sich be-
reits über die Vororte hinaus. Neue Villenkolonien
entstehen über Nacht, die Ausläufer der vorhan-

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