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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 8.1910

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Heft 11
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Muthesius, Hermann: Städtebau
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https://doi.org/10.11588/diglit.3548#0548

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gefasst und gedankenlos angewendet wurden. Die
gerade Strasse war plötzlich verpönt und die
„krumme Richtung" griff Platz. Die Terraingesell-
schaften machten eiligst Schlängelführungen auf
ebenem Gelände, um zu beweisen, dass sie an der
Spitze der Entwickclung marschierten. In jener
merkwürdigen Verkennung unserer Zeit, die an
einer Sache immer erstens das Technische und
zweitens das Künstlerische gesondert betrachtet,
glaubte man jetzt in den Merkmalen des Künstle-
rischen den Schlüssel für den Städtebau gefunden
zu haben. Es ging wie auf allen Gebieten, im be-
sondern wie in der Architektur. Man brüstete sich
mit künstlerischen Absichten und war doch meilen-
weit von jenem Zustande der alten Kultur entfernt,
in dem man von Kunst nicht sprach, sie aber bei
Allem, was man ausübte, empfand und ihr un-
bewusst und instinktiv folgte.

Die Revision dieser durch Sitte ohne dessen Ver-
schulden heraufgekommenen „krummen" Rich-
tungen" hat erst neuerdings begonnen. Man lernt
einsehen, dass es sich bei solchen Fragen nicht um
krumm oder gerade handeln kann, sondern dass allein
die Bethätigung jenes künstlerischen Geistes mass-
gebend ist, ohne den harmonische Leistungen auf
keinem Gebiete, auch nicht auf einem sogenannten
rein technischen, möglich sind. Diese Reformarbeit
haben wir heute auf allen Gebieten des sichtbaren
Gestaltens zu leisten. Die Periode, in der wir
versuchten, einem kunstlos gewordenen Gewerbe,
einer vertrockneten Architektur, einer auf Abwege
geratenen Gartenkunst, einem rein geometrisch auf-
gefassten Städtebau wieder Kunst zuzutragen, indem
wir den neuen Bildungen die Äusserlichkeiten
früherer Kunstausübungen anhefteten, hat uns nicht
zum Ziele geführt. Es bleibt kein anderes Mittel
übrig, als das künstlerische Urgestalten des Menschen
selbst wieder wachzurufen, dafür zu sorgen, dass nur
Menschen, in denen die Fähigkeit zum harmonischen
Gestalten noch lebendig ist, an solche Aufgaben
herangelassen werden, Menschen, in denen ein
Trieb nach Ordnung, Rhythmus und Harmonie die
gestaltende Hand führt, und die dann auch bei in-
timster Berücksichtigung aller praktischenBedürfnisse
gar nicht anders als künstlerisch gestalten können.
Diese Menschen werden dann wieder Kunstwerke
scharfen, die sich mit den Erzeugnissen früherer
Kulturen vergleichen können. Und wir werden
jene peinlichen Produkte unserer Zeit überwinden,
bei denen einer verwahrlosten Form durch einen
Kunstspezialisten Äusserlichkeiten angeheftet wur-

den , die durch intellektuelles Studium gewonnen
waren.

So stellt sich auch das ganze Problem des
Städtebaus schliesslich nur als ein Problem der
Form dar. Das auf allen Gebieten formlos schaffende
neunzehnte Jahrhundert hatte hier wie überall eine
Misswirtschaft erzeugt, die nicht länger zu ertragen
war. Was wir jetzt zu thun haben, ist: Ordnung
einzufuhren. Jene höhere Übereinstimmung von
Form und Zweck zu schaffen, ohne die jedes mensch-
lische Werk unbefriedigend, hässlich, ja grotesk er-
scheint.

Um diese Ordnung handelt es sich auch bei
der Gestaltung des Gross-Berliner Stadtbildes, für
die der Wettbewerb die Grundlagen liefern sollte.
Sind diese in den eingesandten Entwürfen geschaffen
worden? Wer sich die Schwierigkeiten der ge-
stellten Aufgabe von Anfang an klarmachte, der
konnte nicht darüber im Zweifel sein, dass der
Wettbewerb kaum etwas Anderes bringen konnte
als Anregung. Ist doch das Problem ein so gewal-
tiges, dass weder der für den Wettbewerb zur Ver-
fügung gestellte Zeitraum, noch die Kraft eines
Einzelnen genügt hätte, einen ausführungsreifen Be-
bauungsplan für die zukünftige Zehnmillionenstadt
zu liefern. Und so kann man denn auch als Re-
sultat feststellen, dass viele brauchbare Gedanken
an den Tag gekommen sind, aber auch nicht mehr
als solche. Einige Entwürfe erschöpfen sich in
Verkehrsfragen, sind aber in der formalen Ge-
staltung unzureichend. Andere gehen in erster
Linie auf die Schaffung monumentaler Platzanlagen
in Berlin aus (was hier Bruno Schmitz geleistet hat,
verdient alle Bewunderung). Man sagt sich aber,
dass die Gestaltung der Aussenbezirke, in denen
jetzt ein wirres Durcheinander herrscht, das Nächste
und Dringendste ist. Ein Entwurf, der sich, ohne
die Verkehrsfragen zu vernachlässigen, vor allem
dem Gestaltungsproblem im Grossen widmet, ist
der mit dem ersten Preis ausgezeichnete von Jansen.
Seine Vorzüge bestehen in der Anordnung grosser
ausstrahlender Strassen nach allen Richtungen, in
der sorgfältigen Berücksichtigung genügend grosser
Freiflächen in den Aussenbezirken nach Art des
Wiener Wald- und Wiesengürtels, in der ausge-
zeichneten Disposition der Strassendurchbrüche
im Innern der Stadt, (die meist durch Hinter-
land gelegt sind, um durch die Wertsteigerung die
Kosten zu decken); in der guten Verteilung der
Industrieviertel im Norden und Osten. Das weitere
Schicksal von Gross-Berlin hängt jedoch von andern

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