durch die Reihen der französischen Intellektuellen, es ist ein fast symbolischer Vorgang,
als ob nun erst die Nation ganz von ihrem eigensten Gut Besitz genommen hätte. So
hat die Tricolore, die still, kaum je von einem Windhauch bewegt, über dem Toreingang
in der Rue de Richelieu hängt, doch einen tieferen Sinn. Nie, solange tagsüber das Tor
geöffnet ist, hört das unablässige Aus- und Eingehen der Leser auf; einer zahlreichen,
aber durch vielerlei Formalitäten gewählten Schar. In dem weiten, mit Steinplatten be-
legten Hof spricht der strenge Geist der Architektur deutlich zu dem Eintretenden, nimmt
ihm die Hast und erinnert ihn im Überschreiten an das Jahrhundert, in dem der Grund
zur inneren und äußeren Größe Frankreichs gelegt wurde.
In diesem Gebäude fand die Goetheausstellung im Oktober und November 1932 statt.
Als Raum diente ihr die langgestreckte Galerie Mazarin. im ersten Stockwerk, die nur
selten Ausstellungen geöffnet wird. Meistens werden diese in Seitenräumen des Erd-
geschosses gehalten. Die Ausstellungen der Bibliotheque Nationale rechnen zuerst mit
den täglichen Besuchern der Bibliothek, den Lesern; Menschen, zu denen Zeitgeist ebenso
durch das gedruckte und geschriebene Wort wie durch das Kunstwerk spricht- Dokument
und Kunstwerk sich gegenseitig erläutern zu lassen entspricht dem traditionellen Stil
der Ausstellungen an diesem Ort.
Mit der Goethe-Ausstellung ist der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit ein
Meisterstück in diesem Stil geglückt. Es ist gelungen, in dem aufmerksamen Besucher
den Lebensraum Goethes wieder erstehen zu lassen. Aus Lesen und bildhaftem Sehen
diesen Gesamteiiidruck zu formen, erfordert eine große innere Anstrengung, der aber
die schärfste Auswahl der Gegenstände und die knappe Bemessung des Raumes Rechnung
trug. Tatsächlich war es möglich bei einem Besuch bis zu den Einzelheiten vorzudringen
und mit einem Gefühl von dem Reichtum und der Fülle dieses Lebens davonzugehen.
„Visages et I'aysages dans le Souvenir de Goethe" war die Einleitung des ausgezeichneten
Kataloges überschrieben und wie eine einzige große Erinnerung deckten die Gesichter
der Zeitgenossen und die bekannten Landschaften die Wände. Die stillen Linien mittel-
deutscher Gegenden empfingen von dem Pariser Milieu den Reiz des Fremden, und der
deutsche Besucher sah wie aus der Ferne und mit großer innerer Distanz die Figur
Goethes in dieser Landschaft.
Einzige Dokumente der äußeren Erscheinung des Dichters, Abgüsse des Antlitz' und der
rechten Hand, im Oktober des Jahres 1807 über dem Leben abgeformt, bildeten den
Mittelpunkt der Ausstellung. En face stören bei dem Gesichtsabguß die verklebten Augen
sehr, doch im Profil empfand ich, wie niemals bisher, die in diesem Gesicht ausgeprägte
Größe. Die Linie scheint überall die leibliche Form zu sprengen und in der Erinnerung
Überlebensgröße zu gewinnen. Keine der ausgestellten Büsten erreicht auch nur annähernd
diesen Eindruck, sie wirken alle zu klein. Die Bevorzugung des Sichtbarwirkenden war
bis in die Wahl der Autographen spürbar. Die Melodie der Goetheschen Handschrift
klang besonders rein aus einem Blatt auf dem in großen Zügen in deutscher Schrift
geschrieben stand: .Edel sey der Mensch/Hülfreich und gut...*
Im Literarischen war man naturgemäß liebevoll den französischen Einflüssen auf den
Dichter und den Ausstrahlungen Goethes auf Frankreich nachgegangen, ein Vorgang, der
sich auch im Bildkünstlerischen spiegelte. In der Nähe der Sepiabiitter Goethes - die
Ilmlandschaft aus dem Besitz Stefan Zweigs ganz naturnah! - hing eine schöne Claude-
Zeichnung, die wie das stille, immer angestrebte Ideal Goethescher Kunstubung wirkte.
Bildhaft Gestalt geworden sind die Figuren Goethescher Dichtung bisher nur einmal
nach den höheren Gesetzen bildender Kunst: in den Werken des Delacroix. Über die
Ausstellung verteilt, zogen sie überall den Blick sofort und für lange auf sich. Die Litho-
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als ob nun erst die Nation ganz von ihrem eigensten Gut Besitz genommen hätte. So
hat die Tricolore, die still, kaum je von einem Windhauch bewegt, über dem Toreingang
in der Rue de Richelieu hängt, doch einen tieferen Sinn. Nie, solange tagsüber das Tor
geöffnet ist, hört das unablässige Aus- und Eingehen der Leser auf; einer zahlreichen,
aber durch vielerlei Formalitäten gewählten Schar. In dem weiten, mit Steinplatten be-
legten Hof spricht der strenge Geist der Architektur deutlich zu dem Eintretenden, nimmt
ihm die Hast und erinnert ihn im Überschreiten an das Jahrhundert, in dem der Grund
zur inneren und äußeren Größe Frankreichs gelegt wurde.
In diesem Gebäude fand die Goetheausstellung im Oktober und November 1932 statt.
Als Raum diente ihr die langgestreckte Galerie Mazarin. im ersten Stockwerk, die nur
selten Ausstellungen geöffnet wird. Meistens werden diese in Seitenräumen des Erd-
geschosses gehalten. Die Ausstellungen der Bibliotheque Nationale rechnen zuerst mit
den täglichen Besuchern der Bibliothek, den Lesern; Menschen, zu denen Zeitgeist ebenso
durch das gedruckte und geschriebene Wort wie durch das Kunstwerk spricht- Dokument
und Kunstwerk sich gegenseitig erläutern zu lassen entspricht dem traditionellen Stil
der Ausstellungen an diesem Ort.
Mit der Goethe-Ausstellung ist der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit ein
Meisterstück in diesem Stil geglückt. Es ist gelungen, in dem aufmerksamen Besucher
den Lebensraum Goethes wieder erstehen zu lassen. Aus Lesen und bildhaftem Sehen
diesen Gesamteiiidruck zu formen, erfordert eine große innere Anstrengung, der aber
die schärfste Auswahl der Gegenstände und die knappe Bemessung des Raumes Rechnung
trug. Tatsächlich war es möglich bei einem Besuch bis zu den Einzelheiten vorzudringen
und mit einem Gefühl von dem Reichtum und der Fülle dieses Lebens davonzugehen.
„Visages et I'aysages dans le Souvenir de Goethe" war die Einleitung des ausgezeichneten
Kataloges überschrieben und wie eine einzige große Erinnerung deckten die Gesichter
der Zeitgenossen und die bekannten Landschaften die Wände. Die stillen Linien mittel-
deutscher Gegenden empfingen von dem Pariser Milieu den Reiz des Fremden, und der
deutsche Besucher sah wie aus der Ferne und mit großer innerer Distanz die Figur
Goethes in dieser Landschaft.
Einzige Dokumente der äußeren Erscheinung des Dichters, Abgüsse des Antlitz' und der
rechten Hand, im Oktober des Jahres 1807 über dem Leben abgeformt, bildeten den
Mittelpunkt der Ausstellung. En face stören bei dem Gesichtsabguß die verklebten Augen
sehr, doch im Profil empfand ich, wie niemals bisher, die in diesem Gesicht ausgeprägte
Größe. Die Linie scheint überall die leibliche Form zu sprengen und in der Erinnerung
Überlebensgröße zu gewinnen. Keine der ausgestellten Büsten erreicht auch nur annähernd
diesen Eindruck, sie wirken alle zu klein. Die Bevorzugung des Sichtbarwirkenden war
bis in die Wahl der Autographen spürbar. Die Melodie der Goetheschen Handschrift
klang besonders rein aus einem Blatt auf dem in großen Zügen in deutscher Schrift
geschrieben stand: .Edel sey der Mensch/Hülfreich und gut...*
Im Literarischen war man naturgemäß liebevoll den französischen Einflüssen auf den
Dichter und den Ausstrahlungen Goethes auf Frankreich nachgegangen, ein Vorgang, der
sich auch im Bildkünstlerischen spiegelte. In der Nähe der Sepiabiitter Goethes - die
Ilmlandschaft aus dem Besitz Stefan Zweigs ganz naturnah! - hing eine schöne Claude-
Zeichnung, die wie das stille, immer angestrebte Ideal Goethescher Kunstubung wirkte.
Bildhaft Gestalt geworden sind die Figuren Goethescher Dichtung bisher nur einmal
nach den höheren Gesetzen bildender Kunst: in den Werken des Delacroix. Über die
Ausstellung verteilt, zogen sie überall den Blick sofort und für lange auf sich. Die Litho-
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