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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 4.1924

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Heft 4 (Juli 1924)
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Schäffer, Paul: Von der Form im Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.22225#0100

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hervor, dah M Zciten rcljgiöscr Hochspanrrung, wo
dcr Zusammenhang von Gott und Menschheik nicht
gelockerl ist, auch dic Kunst gewaltige Werke hervor-
gcbrach! yak flndien, Aegyptcn. Frühchristenium,
Äomamk, Goiik). Diese Ltunst ist eruptiv und hat
die bedeutende Fvrm. — Ein kurzer Ueberblick soll
die erwähnte Wcllcnbewcgung zeigen.

Die ägyptische Kunst isk gewaltiger Höhe-
punkt. 3edes Stoffliche ist aufgelöst. Die nieder-
zwingende Wirkung geht uns von der Form aus, die
derart absolut ist, datz selbst daS Individuallstische des
Künsklers im Werke aufgcgangen ist. Aehnlich die
indische Kunst, ein Beten in Steinen und in
Stein geformte Erlösung. Hicrin im Gegensah zur
Gotik, die die Tragik dcS Unerlösten in sich trägt.
Die spätägyptische Kunst ist Nicdergang. Gewaltiges
Emporstohen bedeuten frühchristliche Kunst,
Romanik und Gotik. Zwischen den beiden
lehten befindet sich eine tiefe Senkung. Auch die
Fruhrenaissancc gehört zu clen Höhepunkken,
besonderS dork, wo sie noch halb im Byzankinismus
skeckt, so Giotto und Duccio, aber auch noch Masaccio
und Voticelli. Die Hochrneaisiance dagegen ist schon
fast Umkehr. Hier trelen kunstfeindliche Prinztpien
auf, die in der Antike ihren Ursprung haben. Es
gehört Mut dazu, zu behaupten, dah der Berfall
von Griechenland ausgeht, wo man griechische Kunst
durch die Bezeichnung „klassisch" als vollkommen hin-
gestellt hat. Dieses Urteil ist aber von einer Zeit
ausgesprochen worden, die besonders unschöpferisch
war und der nichts anderes übrig blieb, als nach
einem Dorbilde auszuschauen, das durch seine aus-
geprägt sinnliche Art bezauberte, Nachdem der Bann
gebrochen, darf das Trugurkei! keine Eewalt mehr
Lber uns haben. Gerade die als unreif bezeichneten
Kunststverke der archaisch-griechischen Zeit sind für
uns Form jm besprochenen Sinne. Phidias ist viel-
keicht der lehte grohe Gestalter. Dann ader geht
es langsam bergab: die Ursprünglichkeit verliert sich,
und die Spannung zwischen Natur- und Künsilern
wird geringer, bis stch in der hellenistischen Kunst
beide gefährlich nahe berühren.

Die Aenaissance ist Erbin der Antike. Sie fügt
neue kunstseindliche Elemente hinzu — wie es die Per-
spektive im Grunde ist, ein i n t e l l e k k u e l l e s
Mittel der Gestaltung. Die Kunst resultiert — mik
geringen Ausnahmen — aus den erregten Sinnen,
ist kein Muß, das aus dem Sein herausgeschleudert
wird. Sie wird üsthetisch. Allmählich mündet sie
im Materialismus der Niederländer. Wenn auch
ein Genie wie Rembrandt gewaltige Form schafst
und das allgemeine Niveau überragk — die gesamte
Kurve zu sich emporzureihen vermag er nichk.
Uebrigens ifi es inkeresiant, festzustellen, dah seit der
Eokik geniale Künstler das Gesamtniveau überragen,
daß die allgemeine Linie aber ständig abwärts gleitet.

Und das bis ins 19. Iahrhundert. Hier fühlk man
das Greisenalter und greist zu Hilfsstühen, die man
in der Antike zu sehen vermeinke. Ls entskjeht ein
schwacher Aufguß, Klassizismus genannt, eine Treib-
hauspslanze. Ausgeprägker Nachahmungswille hcrrscht
jeht sMengs, Canova, Thorwaldsen). Üm 1850 endek
die Kunst im geistlosesten Naturalismus, den das
große Publikum verherrlicht, während seine genialen
Be^reter (Coubert, Leibl) unbeachtet bleiben. Ein
Beweis für den Tiefstand des Kunstgefühls. Man
verlangt von der Kunst nicht mehr als „Sujet" und

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„Bortiag". Das konnke man lehren, weshalb sich
ouch die Akademicn ihrer liebevoll annahmen. Kunst
ist jeht Frage der Technik, des Naffinements, eben
der Routine.

Warnungszeichen schrillen auf: Ibsen, Tolstoi,
Niehsche. Der P m pressionismus tritt auf
und sucht nach Freiheit. Aber nur einzelne große
Meistcr wie Manet und Degas haben Schöpferkrast,
das opkisch aufgenommene Weltbild wahrhaft zu ge-
stalten und nicht Sklaven von Technik und stntellekt
zu werden 3n seinen Folgen verfällt der 2mpres-
sionismus, da er kunsttötende Elemente besitzt —
das sind Nachahmung der materiellen Form und
Wissenschafklichkeit. Er hak herausgetüftelt, daß der
Teil des Gesichksfeldes, der auf den gelben Fleck im
Auge fällt, am deuklichsten wahrnehmbar ist und
richtct seine Gestaltung darnach ein. Troh allem be-
deutet der Impressionismus künstlerische Regung in
trostlosester Zeit; es ist aber noch nicht zu übersehen,
ob er Abschluß der apollinischen oder Anfang der
neuen Kunst ist, die sich im Expressionismus
kundgibt, troh aller Gegensätzlichkeit. Denn Expres-
sionismus ist T i e f e i n st e l l u n g, Zmpressionis-
mus dagegen Oberflächeneinstellung. Die neue Kunst
hat die bedeutsame Form wieder entdeckt, ist rück-
sichtslose Revolukion, Reaktion gegen alle Bergewal-
kigungen des Kunsktzefühls. Sie reißt das Trübungs-
mittel fork, das sich verdunkelnd vor das Göttliche
der Kunst gestellt hat, — das Trübungsmittel, das in
cher Zivilisation sich verkörperk.-————---

An dem Nieoergange dev Kunst im 19. Zahr-
hunderk hat die Gesellschaft mit die größte Schuld.
Dieses psychologisch klarzulegen, ist von größkem
Reize, gehört aber nicht mehr in den Rahmen dieses
Aufsahes. Soviel nur sei gosagk, daß die Gesellschaft
die Kunst fast immer zu sich herabzieht und sie ihren
Zwecken dienstbar macht, obwohl sie die berufenste
Macht wäre, Kunst zu fördern. Iyre Fähigkeit des
Nacherlebens hat sich nicht stark genug gezeigk dem
künstlerischen Erleonis gegenüber, das zur Gestal-
kung geführk hat. Die moderne Gesellschast besttzt die
Ilrinstinkte nichk mehr, dafür ihr Bersagen. stetzt,
wo endlich ein göttlicher Funke sich zeigte und den
Weg erhellte, der aus der Finsterms führt, skehk man
verständnislos, weil alle Lberlieferken Maße und
Kennzeichen nicht zutreffen; die Tabulatur versagt.

Die Kunst hat den Mut zu einem neuen Anfang
getunden, möge ihn dle Gesellschafi auch finden und
ernennen, daß die von der materiellen Erscheinung
losgelöste und künstlerisch gesüalkeke Form Träger
des Ausdrucks isk, niemals aber der Stoff.

Abbild. 9

Scherenschnitt. Oberrealschuls Heidenheim
(Zcichenl. Leuze)
 
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