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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 1.1889/​90

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Necker, Moritz: Der Städtebau nach künstlerischen Grundsätzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3772#0220

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Der Städtebau nach künstlerischen Grundsätzen.

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letzten Grund verfolgt haben, und es konnte nur von
einem Manne geschrieben werden, der mit seiner
fachmännischen Bildung als Architekt den weiten Blick
des das Gesamtleben einer Zeit in seiner inneren
Einheit überschauenden Kunsthistorikers vereinigt.
Aus einem massenhaften Anschauungsmaterial, aus
der Kenntnis aller irgendwie kunstgesckichtlich merk-
würdigen Städte Mitteleuropas und Italiens hat Sitte
seine allgemeinen künstlerischen Sätze und Forde-
rungen abgeleitet; es musste eine organisch geord-
nete, in langen Jahren allmählich erworbene An-
schauung in ihm bestehen, bevor sie zu analytischem
Gebrauche verwertet werden sollte. Diese tiefe und
reiche künstlerische Persönlichkeit Sitte's selbst übt
nicht den geringsten Reiz bei der Lektüre seines
Buches aus.

Den eigentlichen Anstoss zu seinen Untersuchun-
gen erhielt Sitte aus der Not des praktischen Lebens,
aus der Hilflosigkeit, in welche dieWiener bei der Frage
gerieten, wohin sie ihre neuen Denkmäler, z. B. das
Denkmal Radetzky's, stellen sollten. Wien hat be-
kanntlich erst in den letzten Lustren begonnen, seine
öffentlichen Plätze mit Denkmälern zu schmücken.
Über Mangel an zu ehrenden Heroen ist nicht zu
klagen, wohl aber über Mangel an passendem Baum
für das aufzustellende Denkmal. Da warf sich Sitte
die Frage auf: wie muss denn eigentlich so ein Stadt-
platz beschaffen sein, um einem schönen Denkmal
schönen Raum zu gewähren? Da ging er denn hin
und untersuchte die Beschaffenheit aller schönen
Stadtplätze Italiens, Deutschlands, Frankreichs, Hol-
lands und das Verhältnis der Denkmäler zu ihnen,
und kam so auf allerlei fruchtbare Folgerungen.
Historisch, aber mehr noch analytisch ist sein Vor-
gang dabei gewesen.

Im Altertum war der Stadtplatz, das Forum, der
Glanz- und Mittelpunkt jedes Stadtbaues. Im Alter-
tum und zumal im milden europäischen Süden, in
Griechenland und in Italien, war das Leben der
Städter ein im Vergleiche mit dem unsrigen über
alle Begriffe öffentliches. Die grossen politischen
und religiösen Handlungen, Gericht und Spiel fanden
unter freiem Himmel statt. Das Forum war die ge-
meinsame Stelle aller dieser wichtigen Vorgänge.
Das Forum ward infolgedessen zu einem grossen,
von drei Seiten abgeschlossenen Tiefenplatze von
möglichst bequemer Ausdehnung, auf allen Seiten
von monumentalen Bauwerken umrahmt, also auch
gegen Sturm und Staub möglichst geschützt, auch
dem Tagesverkehr des übrigen Strassennetzes ent-
zogen; sollten doch auf dem römischen Forum auch

die Gladiatorenspiele abgehalten werden. Das war
also die älteste Form von Stadtplätzen; die architek-
tonische Schönheit von Tempeln und anderen öffent-
lichen Gebäuden kam da in zusammengedrängter
Wirkung vornehmlich von einer Seite zur Geltung.
Den Säulengängen des Forums entlang waren die
zahlreichen Denkmäler, mit denen die Alten ihre
Städte schmückten, aufgestellt; diese Denkmäler-fan-
den so zugleich ihren Schutz und ästhetisch wirk-
samen Hintergrund. Die Schönheit eines solchen
Forums wird wesentlich bewirkt durch die Begren-
zung desselben, die das Auge nicht zerstreut, in
keine unübersehbare Ferne schauen lässt.

In den Städten des Mittelalters gab es kein
Forum mehr; die Tradition der Antike ist unter-
brochen worden, die Städte wurden nicht mehr von
einem centralen Punkte aus (eben dem antiken Forum)
angelegt, und auch der Geist der christlichen Zeit
bewirkte eine Änderung. Denn nunmehr waren die
weltlichen und kirchlichen Centren getrennt: Dom-
platz und Rathausplatz (Signoria) bestanden neben
einander, indes in der alten heidnischen Zeit das
Forum Staat und Kirche vereinigte. So verschieden
aber auch die Zeiten waren, gemeinsam blieb dem
Altertum und dem Mittelalter ein ungebrochenes,
naives Kunstgefühl. Der Gemeingeist erfüllte alle
städtische Bürgerschaft, weder die Laien noch die
Künstler differenzirten sich in dem Masse, wie es
heutzutage der Fall ist. Die Überlieferung wurde
von allen pietätvoll befolgt, so dass sich in allen
Schöpfungen des Mittelalters auf künstlerischem Ge-
biete ein und derselbe unbewusst herrschende Ge-
danke offenbart, und dass wir daher das Recht haben,
die Gesamtwirkungen von Städten, die im Mittelalter
und in der Renaissance, ja auch noch in der Barock-
zeit ihre grossen Baudenkmäler errichtet haben, so
zu betrachten, als wären sie von einem künstleri-
schem Genius angestrebt worden. Wenn wir die
entzückend schönen malerischen Wirkungen solcher
Kirchen- und Signorienplätzen im Süden und Norden
bewundern, so dürfen wir nicht den Zufall als ihren
Schöpfer bezeichnen, sondern den herrschenden künst-
lerischen Geist jener Vergangenheit, der mit mehr
oder weniger klarer Absicht in jedem gegebenen
Falle sich für die ästhetisch wirksamste Anordnung
und Architektur der Stadtplätze entschied. Das ist
Sitte's Standpunkt. Wir Modernen, meint er, haben
die Naivität des Schaffens verloren, nicht am wenig-
sten gerade durch das Studium der Vergangenheit;
unser Stil holt sich in der Kunstgeschichte seine
Muster. Die verlorene Naivität ist aber nicht zu
 
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