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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 1.1889/​90

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Necker, Moritz: Der Städtebau nach künstlerischen Grundsätzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3772#0221

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Der Städtebau nach künstlerischen Grundsätzen.

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ersetzen, und es bleibt uns nichts übrig, als eben
die Gesetze und Bedingungen künstlerisch grosser
Wirkungen aus der Betrachtung der naiv schaffen-
den Vergangenheit herauszubuchstabiren. Sitte hat
diese Arbeit unternommen und folgendes gefunden.
Im Grunde sind die Plätze der Städte des Mittel-
alters nach ähnlichen Grundsätzen gebaut, wie die
Fora der Antike. Zwar münden hier Strassen auf
die Plätze, aber so ein Kirchenplatz ist kein moder-
ner Strassenknotenpunkt, sondern so sehr wie mög-
lich dem Getriebe entzogen; die Strassenmündungen
stehen sich nicht genau gegenüber, sondern sie bil-
den auf dem Grundriss eher die Kurven einer Turbine,
wodurch der Zusammenstoss der grossen Verkehrs-
züge vermieden wird. Ferner haben die Meister des
Mittelalters, insbesondere in Italien, die Kirchen nicht
frei, zur Anschauung von allen vier Seiten aufgestellt,
wie man das, (was Sitte nachdrücklich beklagt) sehr
unvernünftiger Weise heute für passend und schön
hält; ganz im Gegenteile sind die Kirchen mindestens
von einer, zumeist aber von drei Seiten eingebaut
worden. Der Vorteil war der, dass der Architekt
sowohl seine künstlerischen als auch seine ökonomi-
schen Mittel auf die Ausstattung der einen Haupt-
facade vereinigen konnte; ohnehin ist es überhaupt
unmöglich, einen Kirchenbau von allen vier Seiten
gleichbedeutend ästhetisch wirksam zu gestalten.
Die moderne Methode zersplittert die Kräfte. Und
endlich haben die alten Architekten dafür gesorgt,
dass der Platz vor der Kirche begrenzt sei, eine an-
gemessene Tiefe habe, um den Anblick der Kirchen-
front aus genügender Weite zu ermöglichen, nicht
aber dass die Kirche auf einem so riesigen Räume
zu stehen komme, wie z. B. die Wiener Votivkirche,
dass sie trotz ihrer mächtigen Formen doch nur wie
ein kleines zierliches Modell auf dem Präsentirteller
erscheint. Im Norden haben die Architekten des
Mittelalters allerdings auch freistehende Kirchen ge-
baut; dies geschah darum, weil die Friedhöfe sich
unmittelbar rund um die Kirche erstreckten. Aber
auch hier war dafür gesorgt, dass die Kirche nicht
in der Mitte, sondern an der Seite des Platzes
zu stehen kam, und dass der Zugang zu ihr ein
Tiefenplatz war. Nur dieses harmonische Verhält-
nis zwischen Platz und Bauwerk erzeugt jenen male-
rischen Eindruck, den wir in alten Städten bewun-
dern und in modernen Städten auch gern haben
möchten; der schöne Eindruck ist nicht erreicht
worden, weil man seine Bedingungen übersah. In-
folge ihrer Ausdehnung in die Höhe haben die
Kirchen mehr lange als breite Kirchenplätze erhalten.

Die Signorien, Rathäuser und andere monumentale
Bauwerke erstrecken sich aber mächtiger in die
Breite, und um ihre Schönheit zur Geltung zu brin-
gen sind die vor ihnen liegenden Plätze zu Breiten-
plätzen gestaltet worden. Und auch auf diesen im
Mittelalter und später entstandenen Plätzen sind die
Denkmäler, Brunnen und dergl., nicht im geometri-
schen Mittelpunkt der Flächen, sondern an der Seite,
auf Platzinseln, die dem Strome des Verkehrs ent-
zogen sind, angebracht, und gerade daraus ist eine
neue Schönheit malerischer Art entstanden. Ferner
haben die Alten ihre Baudenkmäler nicht durch
Anpflanzung von Bäumen und notdürftig im Staube
der Strassen erhaltene Gärtchen verdeckt, sondern
die monumentale Wirkung der Gebäude rein zu halten
gesucht. Überhaupt haben die Alten ihre städtischen
Gärten mit viel grösserem hygienischen Nutzen in
umfriedete Räume verlegt, wo die Anpflanzungen
vor Sturm und Staub mehr geschützt waren. Heut-
zutage aber thut man von alledem das Gegenteil:
die Plätze können gar nicht gross genug sein, ob-
zwar sie jede ästhetische Wirkung durch ihre Grenzen-
losigkeit verlieren und nur dem Winde Gelegenheit zu
seinem Spiele geben. Die Strassen können nicht recht-
winklig genug ineinander münden und auch nicht zahl-
reich genug, obzwar dadurch gerade in den Gross-
städten der Verkehr so erschwert wird, dass er nur
durch die Polizeigewalt in Ordnung erhalten werden
kann. Die öffentlichen Plätze haben zwar ihre grosse
hygienische Anerkennung erreicht, aber dadurch, dass
sie ohne Abschluss sind, überall von vielen Strassen-
mündungen durchbrochen werden, verlieren sie jeden
malerischen Wert. Mit Alleen und kleinen Anlagen,
die weder Schatten gewähren, noch vor Wind schützen
täuscht man sich selbst über ihren Nutzen. Und von
dem künstlerisch impotenten Geiste der Zeit wird
die mit dem Lineal vollzogene Parzellirung der Bau-
flächen als höchste Weisheit der Stadtbaukunde hin-
gestellt. Eine Stadt soll aber ein Kunstwerk sein,
das die Liebe seiner Einwohner nährt und erhält.
Die langweiligen schnurgeraden Strassen erzeugen
keinerlei Schönheit, und mit der Charakterlosigkeit
moderner städtischer Anlagen darf man wohl auch
den Wandertrieb ihrer Einwohner, ihre Gleichgültig-
keit für ihre Wohnung in einen gegenseitig sich
begründenden Zusammenhang bringen.

Gegen diesen Mangel an jedem künstlerischen
Geiste in dem modernen Städtebau ist der Kern von
Sitte's Buch in hinreissender Polemik gerichtet. Es
fällt Sitte nicht ein, die Fortschritte, welche die In-
genieure und Baumeister im Städtebau gemacht haben,
 
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