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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 57.1921/​1922 (Oktober-März)

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Nr. 11
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Nr. 12/13
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Waldmann, Emil: Römische Figur bei Tizian
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Literatur / [Notizen] / Kunstmarkt
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https://doi.org/10.11588/diglit.37098#0230

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Römifche Figur bei Tizian


Raffael: Die »Mäßigung« (Ausichnitt) aus der Lünette
der Stanza deila Segnatura. Gegenfeitig

auf der Vatikanifchen Tafel gedient
hatte. <Diefes oft betonte Abhängig*
keitsverhältnis erfcheint doch eher be*
langlos >.
Audi an Raffael hatte er fich um
Auskünfte über die Frage nach großer
Figur gewandt. Seine Madonna auf
der Veronefer Himmelfahrt (1525),
mit dem fchönen aber ftillen Kontralt*
reichtum, ift, wie überhaupt die ganze
obere Hälfte des Bildes in dankbarer
Erinnerung an Raffael's Madonna von
Foligno entftanden. Und nun end-
lich das Meifterwerk in der Reihe der
großen Altäre, die Madonna des Haufes Pefaro, in die er alle die reichen Er-
fahrungen jener Jahre hineinmalte und die er nach fiebenjähriger Arbeit dann
endlich ablieferte! Auch diefe Madonna ift ohne römifche Hochrenaiffance

nicht gut denkbar, nicht ohne Raffael —- wie fie dafitzt, mit dem rückwärts*
liegenden Stützpunkt, mit der ftark unterfdiiedenen Haltung der Beine, mit der
fehr ftarken Drehung der Hüften und dem Arm*Kontrapofto und der tief*
geneigten Kopfhaltung — mit diefer bedeutenden Entwicklung an plaftifchen
Volumen und dem Auseinanderziehen der Richtungen, bedeutet fie, formal
gefprochen, eine Weiterentwicklung jenes Figurenftils, den Raffael in feiner
»Moderantia« in der Lünette der juriftifchen Tugenden <Stanza della Seg*
natura), begeiftert von Michelangelo und von Rhythmus, hingeftellt hatte.
Ein Kupferftich, der diefe Kompofition im Gegenfinne reproduziert, wird Ti*
zian in die Werkftatt geflattert feinJ
Daß man diefen Zufammenhang bisher nicht beachtete, beweift zur Ge*
nüge, wie fehr Tizian folche Erfindung zu einem Gefchöpf von eigenen Gnaden
umgefchmolzen hat. Er kopierte nicht und übernahm nicht, fondern er bildete
fich und verftand die Dinge von innen heraus. Als er gegen Ende diefes
Jahrzehntes den Altar des Petrus Martyr malte mit dramatifch bewegten
Figuren von einer Formenenergie, die Michelangelo^ nicht unwürdig wäre,
fteht er ganz auf eigenen Füßen. Er hatte begriffen. Und es ift kein Zufall,
daß die Befchreibung diefes feiner Zeit berühmteften tizianifchen Bildes1) den
epochemachenden Dialog zwifchen Aretino und Lodovico Dolce’2) einleitet.

1) Als das Bild in San Giovanni e Paolo aufgeltellt war, erließ der Rat eine Verordnung,
die mit Todesltrafe bedrohte, wer es wagen füllte, das Bild von feinem Platze zu entfernen.
2) Lodovico Dolce: »L'Aretino. Dialogo della Pittura«. Neue Ausgabe von Guido
Batelli. 1910. Florenz.
 
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