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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

DOI issue:
Heft 13 (1. Aprilheft 1913)
DOI article:
Rauscher, Ulrich: Die Kino-Ballade
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0016

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Iahrg.26 Erstes Aprilheft 1913 Heft13

V

W

Die Kino-Ballade

as heutzutage zu dumm ist, um gesagt zu werden, das wird
gesungen!" Eine Wahrheit, die, wie der ganze Figaro, im
Iahre (784 so gut galt, wie im Iahre (9(3. Ansre Libretti
haben an Dummheit nichts eingebüßt, nur an Grazie und Einfällen.
Das Wort „Kuß" ist immer noch eine Pointe und eine gewisse schnod-
drige Sentimentalitat immer noch Trumpf. Und nicht nur Operetten-
Libritti, auch die „Dichtungen" der Musikdramen hätte, meiner ketze-
rischen Ansicht nach, Figaro in seine kleine Wahrheit miteinbezo-
gen, wenn er nicht in der glücklichen Zeit gelebt hätte, wo Rameau
urld die Italiener sich rein musikalisch und nicht philosophisch be-
kämpften.

Aber wir sind die Enkel und haben die schöne Pflicht, unsre Vor-
fahren in den Schatten zu stellen. Figaros Wort genügt uns nicht
mehr, wir sind stolz darauf, es weiterzubilden und damit der Wüste
der Dummheit einige weitere Kilometer anzugliedern. Sagen wir
mannhaft: „Was heutzutage sogar zu dumm ist, um gesungen zu
werden, das wird lichtgebildert!" And wir stehen mitten in der
aufblühenden Kino-Industrie, die im Monat durchschnittlich M000
solcher Meter speit und in Deutschland allein fast 3000 Tempel hat.
Wenn man hört, daß in diesen Tempeln an Samstag- und Sonntag-
abenden in dem einzigen Berlin 350 000 Menschen ihre atemlose An-
dacht verrichten, so wird eine eingehende Betrachtung dieses neuesten
Flagellantentums der Mühe wert erscheinen.

Vorerst noch einige Ablehnungen: Ich werde nicht volkswirt-
schaftlich; Zahlen beweisen für das, was ich zeigen will, nichts.
Probleme der Volksbildung — oder Verbildung interessieren mich
in diesem Zusammenhang nur insoweit, als sie Folge oder Rrsache
der Verderbnis einer fabelhaften Erfindung sind, also mit den <Lr-
scheinungen des Kinos mitbehandelt werden müssen. Ich glaube
nicht, daß eine Gewalt wie Großberlin noch des Kinos bedurft
hat, um seine Gassenkinder zu verderben. Ich glaube vielmehr, daß
die Friedrichstraße oder gar die Ackerstraße viel überredender ver-
derben, als der Film. Ich glaube schließlich, daß die jugendlichen
Vösewichter, die vor Gericht etwas vom Gesehen-tzaben im 5^ino
murmeln, oft in der Aeitung gelesen haben, daß man Heute als
Iugendlicher vor Gericht so sagt. Ich glaube, daß der Kino eine
ungeheure Macht ist, aber vom Leben übertroffen wird. (Das Wort
„Kino" will ich der Kürze halber beibehalten.)

Der Kino von heute ist schlecht. Er steht unter jeder anderen
öffentlichen Vergnügungsveranstaltung. Selbst das ödeste Varietö
bietet zwischen dem Blech seiner Chansonetten irgendeinen Trapez-
oder Akrobatenakt, der dank einiger wohlausgebildeter, körperlicher
Fähigkeiten mit Schönheit und disziplinrerter Kraft zusammenhängt.
Das Volkstheater mag mit Rührstücken oder lächerlichen Possen noch
so sehr wider Natur und Geschmack sündigen: irgendein Darsteller

j. Aprilheft W3

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