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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

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Heft 15 (1. Maiheft 1913)
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Michel, Wilhelm: Der Künstler als Vorkämpfer der Menschheit
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Bonus, Arthur: Gilgamesch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0210

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Verformen, Gestalten. Iede neue Benennung, jedes neue Gestalten
rückt, wie die in feindliches Gebiet eingestoßenen Fahnenspeere der
Eroberer, die Marken des Menschlichen weiter hinaus. Die Geschichte
der Kunst und der Dichtung ist die Geschichte eines unaufhörlichen
Krieges gegen das Chaos. Am Anfange grenzt das Reich der un«
benannten Finsternis noch sehr nahe an das enge Gebiet, das die
Menschheit ihr Eigen nennen kann. Die ersten künstlerischen Form-
siege haben daher die einfache Wucht und Größe allererster Vorstöße
in Feindesland. Im Laufe der Iahrhunderte verfeinern sich die
Waffen und der ganze Apparat der Kriegführung; die Gebiete, die
neuerdings beispielsweise Dostojewski erobert hat, erforderten ein
viel raffinierteres Rüstzeug als diejenigen, die durch die ersten großen
Dichtungen der Menschheit gewonnen wurden. Aber der erobernde
Sinn des künstlerischen Bemühens ist hier wie dort der gleiche. Ins-
besondere wird jeder, der in die finstere Seelenwelt des genannten
russischen Dichters eindringt, sühlen, daß er neu entdeckte Kontinente
betritt, die vordem der Menschheit nicht zugänglich waren. Das will
sagen, daß solche Kunstwerke keineswegs bloße Luxuswerte bedeuten,
sondern allen Ernstes Gebietserweiterungen, die, wie ihre Lroberung
aus kollektiven Antrieben erfolgt, auch das größte kollektivische In-
teresse haben.

So ist der Menschheits-Auftrag in allem künstlerischen Bemühen
zu erklären, so das Pathos, das Künstler oft ihre anscheinend höchst
persönlichen Ziele mit einer Größe des Impulses verfolgen läßt, die
sonst nur bei höchsten kollektivischen Anstrengungen wirksam wird.

Der Künstler ist ein Vorkämpfer der Menschheit. Und wem dies
alles zu mythologisch ausgesprochen dünkt, der sei daran erinnert,
daß Mythologie, weit davon entfernt, eine Fabelerzählerin zu sein,
in Wahrheit von ewigem, wirklichem und alltäglichem Geschehen
handelt. Wilhelm Michel

Gilgamesch

>^-^^ie liest man halbzerstörte Lexte? tzat es überhaupt einen Wert, sich
^^MHum Halbzerstörtes zu kümmern? Für uns Laien meine ich; denn
^^^daß die Wissenschaftler es studieren müssen, ist selbstverständlich.
Aber wir, die wir uns der Kunst hingeben, nicht um ein Wissen über sie zu
erkangen, sondern um uns von ihr fördern, erheben, erhöhen zu lassen? Ich
gestehe, daß mich persönlich die künstlichen Lorsi der Rodinschule mehr ärgern
als freuen. Aber wer möchte die Lorsi der Parthenongiebel missen! Für
viele von uns werden sie seinerzeit wie Offenbarungen gewesen sein. Wo es
sich um natürliche Lorsi wirklicher und großer Kunst handelt, ist von vorn-
herein die Phantasie willig, sie sich zu ergänzen, und in solchen Fällen hat
gerade der Lorsocharakter dieser Schöpfungen etwas die eigene Kraft Auf-
reizendes und Beflügelndes, so daß in solchen Fällen das Studium halbzer»
störter Werke seinen eigenen Wert und Reiz hat.

Manche Leser werden den Eindruck kennen, den an alten Kirchen- oder
Schloßwänden halbzerstörte Mosaiken oder Fresken machen. Ganze Strecken
hindurch nur noch einzelne Farbstücke oder »linien, dann plötzlich zusammen-
hängende Glieder, Gesichter, ganze Figuren von solcher Pracht der Farbe,


Kunstwart XXVI, 15
 
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