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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

DOI Heft:
Heft 13 (1. Aprilheft 1913)
DOI Artikel:
Gürtler, Franz: Wesentliches und Unwesentliches im Musikleben
DOI Artikel:
Möller, Karl: "Künstlerische Gymnastik"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0031

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Klärung des musikalisch-künstlerischen Sinnes, damit davon auch wreder
belebende Ströme in die häusliche Musikpflege ausgehen können,
eine Reform der Tageskritik, eine Anspannung der psychologischen
Musikwissenschaft im Dienste vernünftigen Anterrichts. . . wer die
Augen auftut, wird allenthalben sehn, wie im Dienste der Kunst selbst
nur allzuviel zu tun übrig bleibt, während wir unsere Kräfte im Rn-
wesentlichen zersplittern. Franz Gürtler

^Künstlerische Gymnastik"

as das sei, erfahren wir aus einem Buche mit folgendem Titel:
„Künstlerische Gymnastik. tzarmonische Körperknltur nach dem
amerikanischen System Stebbins-Kallmeyer von Frau tzade
Kallmeyer. In Amerika und England diplomierte Lehrerin der ästhe-
tischen Gymnastik. — Kulturverlag, Schlachtensee-Berlin." Also:
„künstlerisch" — „harmonisch" — „amerikanisch" — „diplomiert^ —
„ästhetisch" — „Kulturverlag" —, wenn das alles nicht gespannt
macht, dann weiß ich nicht, was den heutigen bildungsbeflissenen
Deutschen noch mehr anlocken könnte.

Schüchtern stolz ist der Name Kallmeyer durch Bindestriche mit dem
Namen „Stebbins" verknüpft. Wer ist das? Das ist die Lehrerin
dieser neuen Lehrerin: Miß Genevieve Stebbins. Das ist eine Dame,
von der die Verfasserin ganz wunderbare Dinge zu erzählen weiß.
In Paris hat sie — man höre! — mit Regnier zusammen
studiert, „einem der bedeutendsten dramatischen Lehrer, aus dessen
Schule u. a. Bernhardt und Coquelin hervorgingen". Sie ist die Cr-
finderin dieses Systems. Sie gründete in New Pork die „Schule des
Ausdrucks" und „arbeitete mit den größten Crfolgen^. (Man denke:
Mrs. Pierrepont Morgan, Miß Vanderbilt, Mrs. Iohn D. Nocke-
feller waren ihre Schüler!) Aber sie selbst war eigentlich die Schülerin
eines andern, des Amerikaners Steele Mac Kaye. And der
war wiederum ein Schüler — und zwar der beste! — des Franzosen
Delsarte. Nnd das war jener geniale Mann — man glaube: die
Nachel, Sontag, Pasca, Monsabre „und andere" waren seine Schü-
ler! —, dem „die Wiederentdeckung und Formulierung
der Gesetze der Ausdruckswissenschaft" gelang. So ver-
binden jene unscheinbaren Bindestriche den Namen tzade Kallmeyer
über zwei verflossene Generationen Hinweg mit dem Genie Delsartes!
And von dem müssen wir lesen: „Ihm allein ist es zu danken, daß
die Ausdruckswissenschaft heute die gleiche Gesetzmäßigkeit, die gleiche
Präzision, die gleiche Anfehlbarkeit aufzuweisen hat wie etwa die
Mathematik, so daß dem Studierenden der dramatischen Kunst Iahre
zwecklosen Studiums erspart werden, da mit dieser von Delsarte be-
gründeten Wissenschaft das Chaos zu einem gesetzmäßigen Ganzen
umgewandelt wurde. Was Comte für die exakte Wissenschaft ge-
leistet hat oder Ruscin (so!) für die Malerei, das leistete Delsarte für
die Schauspielkunst und Skulptur durch seine Gesetze des Ausdrucks,
die in ihrer Gesamtheit ein System darstellen von außerordentlicher
Symmetrie und Schönheit. Crst die Wiederentdeckung dieser Gesetze
befähigte die Darsteller der Bühne, sich aus dem Chaos ihrer bis dahin

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Kunstwart XXVI, 13
 
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