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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

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Heft 17 (1. Juniheft 1913)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0416

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Es war eine Selbstmörderin.

Als Ionathan Schilpin wenig später das Zimmer aussuchte, sand er
sein Weib auf den Knien vor dem Bette, das Gesicht in die tränenfeuchten
Decken gedrückt, den Leib von wehlichem Schluchzen erschüttert.

Vom tzeute fürs Morgen

Fünfzehnjährig und fünf-
zigjährig

^rgend jemand hat neulich die
OBilder von bekannten Fünfzig-
jährigen nebeneinandergestellt. Das
war nichts Neues und weckte mäßi--
ges Erstaunen. Man kannte alle
diese Köpfe schon genügend.

Da hing man die Bilder der-
selben Leute darunter, als sie fünf-
zehnjährig waren, und Blitze zuck-
ten über das Gewölk unseres Ver-
stehens. „So sah der aus als
Knabe? Ietzt versteh ich manches."
Und hinter dem Verstehen stelzte
die Kritik einher.

„Seht dieses Iungen Auge an,
ein Königreich verspricht es." „And
hat sich dann an einer rentablen
Goldwäscherei genügen lassen." —
„And des andern feines Kinderhänd-
chen!" „Eine Pranke ist daraus
geworden." — „Wie einePfirsichblüte
hat jenes Iungen Wange geleuch-
tet." „Sturzacker jetzt." — „Seht
jenes vierten Knaben verschlossenes
Gesicht — nichts verspricht es."
„Amd hat so viel gehalten."

Ich hab dann eine stille Stunde
abgewartet und bin ohne Zorn und
Liebe an den Bildern hingegangen.
„Ohne Zorn und Liebe," las ich
irgendwo, „das ist der Boden, auf
dem gerechte Kritik erwächst." Aber
mir erwuchs nichts daraus, gar
nichts. Da mischte ich ein Lröpf-
lein Liebe bei, und siehe, nun be-
gannen sie zu reden:

Fünfzehnjährig — fünfzigjährig,
ein Anfang und ein Ende. Aber

sähest du's? Ich sehe beide ent-
fernte Punkte einer Kurve. Iedoch
die Kurve selber seh ich nicht. . .

Komm, Fünfzehnjähriger, schau
mir noch einmal fest ins Auge.
So — jetzt will ich das meine schlie-
ßen. Im Dunkeln fahr ich deinen
Weg nach, unterirdisch tast ich
deinem Lebensfaden nach — zwan-
zig Iahre — dreißig Iahre — vier-
zig — fünfzig — halt, jetzt hab ich's.
Augen auf und verglichen —
stimmt's? Ietzt stimmt es auf
ein Haar.

And nun das nächste Bilderpaar.
Line Doppelfrage blickt dich an aus
beiden: Stieg dieses Menschen Bahn
von fünfzehn zu den fünfzig auf-
wärts? Oder stieg sie abwärts?
Sonderbare Antwort: Beides.

SLellst du dich so zu diesen Bil-
dern, steigt die Kurve an. Ietzt stell
dich so, was siehst du? Sie fällt.

Wie aber soll ich mich denn stel-
len? Stell dich selbst i n ihre Kurve,
dann wirst du erkennen: Es gibt
hier kein Oben oder Anten, so wenig
wie es eine Wahl gibt aufwärts
oder abwärts, es gibt nur ein ehern
Müssen in der Fort entwicklung
seines Selbst. -

And du begreifst, warum der
weiche Mund des nächsten Iungen
später so verhärtet werden mußte.
Warum die trotzig aufgepreßten Lip-
pen eines andern so geschwätzig wer-
den mußten. Warum der erstaunte
Vergsee jenes Auges ein Krähen-
kirchhof wurde.

Fünfzehn Iahre — fünfzig Iahre
sind in eins verschmolzen. Die
Schicksalsströme rauschen. Ein hoher

wenn es nicht drunter stünde, daß
dies und das derselbe Mensch sei,

^ 350 Kunstwart XXVI, V
 
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