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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1913)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Zur Psychologie des Leitmotivs
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Wagner und das Altdeutsche
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0328

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stellung sei, daß die schwankenden Grenzen dieses ungeheuren Reiches
sich zeitweilig erweitern lassen, daß die Entwicklung aber wieder „zu--
rückpendeln" müsse. Man könnte diesen Vorgang denen als vsstiAium
teri-snZ entgegenhalten, welche heute den Tanz zu ähnlichen Formen
„entwickeln" wollen wie einst Wagner die Musik zur Leitmotivik. So
schließend würde man die Leitmotivik als die höchste Welle einer
großen, auf die Affektentladung gerichteten (Lntwicklungwoge, einer
zunehmend individualistischen Periode, fassen können. Indessen wären
diese äußersten und letzten geschichtphilosophischen und metaphysischen
Schlüsse nicht bindend, wir vermögen uns heute noch nicht zu einer
vollendeten Klarheit über das zu erheben, was uns allenthalben um«
spielt; und vielleicht tut man besser, zunächst ausgreifender und tiefer
die Probleme zu erforschen, deren Betrachtung hier nur angeregt, nicht
in vollem Umfange durchgeführt werden konnte.

Wolfgang Schumann

Wagner und das Altdeutsche

^>^er „altdeutsche Stil" ist heut jedem, der „eine Kultur^ in sich
(-H^fühlt, ein solcher Scheuel, daß man seiner am liebsten nicht ge«
denkt: vergessen werde sein Name, geleugnet sogar sein einst
auf Lrden wandelndes Sein! Die tzälfte seines Namens darf man
auch beinahe vergessen und verleugnen. Ein „Stil" im eigentlichen
Sinn war das nur ganz selten einmal, was sich „altdeutscher Stil"
nannte — fast immer war's eher ein Gschnas oder eine Maskerade.
Fast immer, aber doch nicht ausnahmelos. Ans wird heut weh bei
der Erinnerung daran, wie man die tzäuser mit Erkern umschuppte
und mit Giebeln umstachelte, wie man die Stuben mit tzellebarden
aus Zinkguß, mit Thermometern auf Streitäxten aus euivi-6 poli, mit
z Schnitzereien aus Papiermache hinter Diaphanien-Landsknechten und
Edelfräuleins zusammenpuppte. Wie man für Baumbach und Iulius
Wolff als die tzerzigsten unter den Sinnigen schwärmte, und den
Neßlerschen Trompeter von Säckingen die Ohren umschmachten ließ.
All das war eine alberne Mode, gewiß, denn ein Stil ist immer der
Ausdruck von Kräften, und wo ränge hier eigenes Lebendiges
nach Gestalt? Immerhin: auch das „Altdeutsche" war wenigstens an-
geregt von Kräften, und wenn's nur Kräfte des Sehnens waren.
Sehnende Stimmungen, die zur Geburtszeit des neuen Reichs An-
schluß an die tzerrlichkeit des alten verlangten — die, nennen wir's:
Barbarossa-Stimmung, die nicht neu Gewordenes, sondern eine Wie-
derkehr empfinden wollte, die Renaissancestimmung, die zum zweiten
Male ein Wiederaufleben von Gewesenem und als köstlich Empfunde--
nem sah, sie floß durch das gar so leicht historisch gestimmte Deutschtum
breit. Aber sie verflachte schnell, denn die beiden tzauptbedingungen
zu stilbildender Kunst fehlten ihr: an den Afern ein Volk mit innig
aufnehmendem und genießendem ästheLischem Sinn und in den Wellen
selbst kräftige künstlerische Talente. So kam zwischen Phraseuren,
Komödianten und Pfuschern der Zustand, an den wir bei dem Äamen
„altdeutscher Stil der Gründerzeit" zu denken pflegen. Wenn uns
aber die Erinnerung an ein Lied aufsteigt, wie tzolsteins Spielmanns-
lied, oder an ein feines Werk, wie Wilhelm tzertzens Bruder Rausch,

2. Maiheft BlS 275 >
 
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