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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1913)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Wagner und das deutsche Theater
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Schumann, Wolfgang: Zur Psychologie des Leitmotivs
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0321

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des Entzückens durch die deutschen Lande gehen, weil endlich einmal
ein Genie zu feiern ist, bei dem jede Partei auf ihre Rechnung kommt,
die schaffende wie die genießende. Wo sind die reisenden Regisseure,
die ihr Talent der Massenbeherrschung an den Lohengrin« und Tann-
Häuser-Aufzügen spielen lassen, an der Prügelszene in den Meister-
singern und dem Treiben auf der Nürnberger Festwiese, an den
Tumulten im Rienzi und den gewaltigen Mannenchören der Götter«
dämmerung! Bringt nicht ein halbes tzundert von Bühnen die Zeit
und die Ehrfurcht auf, zwei Monate hindurch ein einziges Werk des
tzundertjährigen, Note für Note, mit den Soli, mit Chor und Or-
chester durchzuwühlen, um diesem Feste frohen tzerzens und selbst«
bewußt entgegengehen zu können; welche Wonne für den Kapell--
meister, alle Liederlichkeiten des flüchtigen Korrepetierens auszumer--
zen; für den Regisseur, statt der von Bayreuth her geheiligten und
oftmals gefrorenen Stellungen, Gänge, Gesten und Gruppierungen
neue schauspielerische Bilder zu schaffen, in denen das Blut nach
einem individuellen tzerzschlage pocht! Auch auf die Gefahr hin,
daß diese lebensvolleren Bilder sehr bald verwischt werden, wenn
für einen erkrankten Sänger einer aus der Nachbarstadt eintritt,
der von der neuen Regie nichts wissen will, und daß die eingeschwo-
renen Buchstabengläubigen darüber zetern und spotten! Das alte
Wagnerland umzuackern, bis aus den gleichen trächtigen Schollen
neuartige Blumen hervorwuchern, das wäre sicherlich dem tollen
Achtundvierziger lieber als das sklavische Nachmachen seiner eigenen
ehrwürdigen Theatereinfälle. Ferdinand Gregori

Zur Psychologie des Leitmotivs

ndloser Streit ist um das Wesen der Musik geführt worden,
Theorien aller Art wurden verteidigt. Wer von der Geschichte
geistiger Bewegungen etwas weiß, wird nicht beistimmen können,
wenn derartige Kämpfe als „zwecklos" oder „ergebnislos" abgetan
werden. Vielmehr empfiehlt es sich gelegentlich, an die Stelle theo-
retischer Iurückhaltung eine entschlossene Linseitigkeit zu setzen, um
mit ihrer tzilfe einen Vorstoß in fruchtbare Gebiete zu wagen. Wir tun
es, indem wir die Musik schlechthin als Ausdruck eines innerlichen
Lebens durch Klänge fassen. Damit ist zunächst noch nicht viel gesagt. Der
Schrei oder das Schreien ist auch Ausdruck innerlichen Lebens durch
Klänge; nur ist die Veränderlichkeit und Kombinationsfähigkeit des
Schreis so gering im Vergleich zum Reichtum der Tonwelt, daß er
gar nicht neben ihr bestehen kann. Daß die Musik Ausdruck einer
geradezu unendlichen Mannigfaltigkeit innerer Erlebnisse werden kann,
empfinden wir jedesmal, sobald wir mit ihr in Berührung kommen.
Wir vergessen darüber leicht, daß dieser unendlichen Mannigfaltig--
keit eine eigentümliche Beschränkung zugeordnet ist: auf die Seite
der Gefühle und Affekte im menschlichen Seelenleben. Diese Grenze
zu durchbrechen, zu erweitern, war ein jahrzehntelanges Bestreben in
einer Zeit, welche Lessingsche Abgrenzungen der Künste in keiner Weise
gelten ließ. Der „Romantiker" Wagner gehört zu den stärksten Grenz-
erweiterern der Musik, und so erfüllte er schöpferisch den Gegen-

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