22Y.
Erstes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen über Religion und religiöse
Physiognomien.
^stichts genannter, nichts unbekannter, als — Religion. Das verständlichste und mißver-
standenste aller Wörter.
Religion... Tugend um Gottes willen? wie Spalding lagt. Ja und nein! alle
Tugend um Gottes willen ist Religion; aber nicht alle Religion ist Tugend um Gottes wil-
len. Lugend — wie was ganz anders, als Religion, so sehr sie mit Religion zujammensiießen
kann, und soll, und muß! Dennoch laßt sich Tugend ohne Religion, und Religion ohne
Tugend — ohne Tugendhandlungen wenigstens, wo Anlässe fehlen-gedenken.
Tugend ist Geistesstarke — Uebermacht der Vernunft über Leidenschaft. Uebermacht
des Rechtgefühls über reizendes Unrecht. Glaube, (aber nicht Glaube an Gottheit oder
unsichtbare Welt) Glaube, daß meinem innwendigen Menschen wohler seyn werde, wenn er
gewissen reizenden sinnlichen Vergnügungen freywillig entsagt. Starke des Geistes, die aus die-
sem Glauben entspringt, und mir's möglich macht, Vergnügungen, zu denen ich kein anerkanntes
Recht fühle, von deren Genuß ich Reue oder Schaden zu befahren Ursache habe, zu entsagen —
ist Tugend.
Der Tugend eigentliche Welt ist die gegenwärtige, die sichtbare; der Lugend,
in so fern sie nämlich bloß Tugend, und nicht mit Religion tingirt oder genährt ist. Der Ungläu-
bige, der Atheist kann tugendhaft seyn. Er kann's der menschlichen Gesellschaft vorteilhaft fin-
den— und vortheilhast für sich — auch bey starken Reizungen zur Ungerechtigkeit, jedem zu ge-
ben, was ihm gebührt; keinem zu nehmen, was sein ist. Der ist tugendhaft — der seinen Zorn
mäßigt, bloß um seinem Beleidiger nicht wehe zu thun — und seiner Gesundheit nicht zu schaden.
Starke des Geistes über das Fleisch ist Tugend.
Und — Religion? — Sie kömmt aus der unsichtbaren Welt, und geht in die un-
sichtbare Welt. Nicht die Erde, der Himmel ist ihr Quell und Ziel! Nicht, was sichtbar
Erstes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen über Religion und religiöse
Physiognomien.
^stichts genannter, nichts unbekannter, als — Religion. Das verständlichste und mißver-
standenste aller Wörter.
Religion... Tugend um Gottes willen? wie Spalding lagt. Ja und nein! alle
Tugend um Gottes willen ist Religion; aber nicht alle Religion ist Tugend um Gottes wil-
len. Lugend — wie was ganz anders, als Religion, so sehr sie mit Religion zujammensiießen
kann, und soll, und muß! Dennoch laßt sich Tugend ohne Religion, und Religion ohne
Tugend — ohne Tugendhandlungen wenigstens, wo Anlässe fehlen-gedenken.
Tugend ist Geistesstarke — Uebermacht der Vernunft über Leidenschaft. Uebermacht
des Rechtgefühls über reizendes Unrecht. Glaube, (aber nicht Glaube an Gottheit oder
unsichtbare Welt) Glaube, daß meinem innwendigen Menschen wohler seyn werde, wenn er
gewissen reizenden sinnlichen Vergnügungen freywillig entsagt. Starke des Geistes, die aus die-
sem Glauben entspringt, und mir's möglich macht, Vergnügungen, zu denen ich kein anerkanntes
Recht fühle, von deren Genuß ich Reue oder Schaden zu befahren Ursache habe, zu entsagen —
ist Tugend.
Der Tugend eigentliche Welt ist die gegenwärtige, die sichtbare; der Lugend,
in so fern sie nämlich bloß Tugend, und nicht mit Religion tingirt oder genährt ist. Der Ungläu-
bige, der Atheist kann tugendhaft seyn. Er kann's der menschlichen Gesellschaft vorteilhaft fin-
den— und vortheilhast für sich — auch bey starken Reizungen zur Ungerechtigkeit, jedem zu ge-
ben, was ihm gebührt; keinem zu nehmen, was sein ist. Der ist tugendhaft — der seinen Zorn
mäßigt, bloß um seinem Beleidiger nicht wehe zu thun — und seiner Gesundheit nicht zu schaden.
Starke des Geistes über das Fleisch ist Tugend.
Und — Religion? — Sie kömmt aus der unsichtbaren Welt, und geht in die un-
sichtbare Welt. Nicht die Erde, der Himmel ist ihr Quell und Ziel! Nicht, was sichtbar