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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 18.1909

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Heft 9
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Lissauer, Ernst: Über Detlev von Liliencron
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Schmidtbonn, Wilhelm: Der Dichter
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Jacques, Norbert: "Eroberung der Luft"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26461#0120

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Über Detlev von Liliencron.

holfteinischer Junker und Bauern durfte den Flug ins
Luftbereich nicht wagen: daö alte Gleichnis vom Antäus
drängt sich unabweislich auf. Nirgends haften dann
diescm Heidegänger, der auf seiner Erde „wie dic Rot-
haut" mit allen Sinnen Beschcid weiß, die unsicheren
Sohlen, und mit ihm spielen die Wolkcn des Phan-
tastischen und die Winde der Willkür.

* * *

Auf dem Realistischen beruht die dauernde Be-
deutung der Liliencronschen Dichtung, sowohl seiner Lyrik
wie seincr Ballade. Und es ist kein Iufall, sondern
fast ein symbolischer Zug, daß diesem Dichter daö geistige
Element fehlte: erst durch diese Beschränkung wurde
cr recht eigentlich der Rcpräscntant seiner Ieit. Dcnn
die Zeit, zu der Lilicncron austrat, war in einem be-
stimmten Sinne ungeistig. Sie beschäftigte sich mehr
alö jc cine Epoche vorher mit der Gewinnung der Ma-
tcrie durch Naturwistenschaft, Technik, Volkswirtschaft;
die Naturwissenschaft schien die Rcligion ersetzen zu
können; die materialistischc Gcschichtsauffastung drang
mit den sozialdemokratischen Lehren in weite Kreise des
VolkeS ein; die materialistische Lehre vom Milieu wurde
für Literatur und Literaturauffassung maßgebend. Dicscr
Zeit nun erstand in Liliencron ein Schöpfer, der die
Materie, daS Sinnliche im weiteften Umsang des Wortes,
auf das Allerintensivste kannte und, wie jene Natur-
ivissenschaftler und Jngenicure für praktische Iwecke, in
vorher unerhörtem Maß für die Dichtung verwertete.
Wie er in seinen Versen oft unmittelbar das äußere
Leben der Ieit abspiegelte, so war er unbewußt auch
cin Rcpräsentant ihres Wesens: der materialistische
Lyriker sEox'jv. Ernst Lissauer.

Der Dichter.

Über den Weg

geht er mit harten Schuhn,

die Bäume grüßend,

die Vögel darüber, die Wolken.

Eö ftehen die Menschen
und sehen ihm nach und vergestcn
das Licht seiner Augen
für diesen Tag nicht mehr.

Abendö, auf ihren Bänken,
zu beiden Seiten der Tür,
erzählt die Frau dem Mann,
der Nachbar dem Nachbarn
von dem Wanderer
mit diesen fremden Augen.

Abcr niemand geht ihm nach,
geht zu ihm hin,

ladet ihn ein, inö Haus zu kommen,

die Füße zu ruhn, zu essen, zu trinken.

Klopft er an eine Tür,

schweigt jedes Gespräch,

alle stehn auf von ihren Stühlen

rings um die Wand,

stehen und sehen ihn an,

sehen ihm in die Augen,

ziehen die Hüte vom Haar,
staunend, voll Ehrfurcht.

Sie geben, um was er bittet,
willig, schnell.

Er sitzt am Tisch und hält
die Schüssel am durstigen Mund.

Aber niemand gibt
cin Wort ihm zu.

Geschloffen bleibt jeder Mund,
bis er die Tür nimmt und geht
und seine Schritte verhallen.

Nach vielen Jahren erst,
wenn auö Iungen und Mädchen
Väterchen und Mütterchen wurden,
die durchö halbgeöffnete Fenster
sanft in den Frühling sehn,
sagt eins dem andern:
denkft du des Wandersmanns,

WundersmannS,
mit diesen fremden Augen?

Fremd geht er durch Dörfer der Berge,
durch Städte der Meere.

Die Kinder heben die Hand,
ihn mit Steinen zu werfen —
und senken die Hand,
verstecken die Hand hinter dem Rücken.

Doch die Hunde
gehn hinter ihm her
in langem Zug,
ricchen ihm an den Schuhen,
lecken die Hände ihm,
wie dem Herrn, der endlich gekommcn.

Und am Bergpaß oben,
der Gekreuzigte unterm Holzdach,
hoch gegen den Himmel ftehend:
als der Wanderer kommt,
löst er plötzlich den Arm vom Kreuz,
hebt den bärtigcn Kopf zu sich auf,
sieht in die Augen hinunter,
beglückt, und küßt die hohe,
königlich hohe Stirn
über dem wilden, befriedeten,
über dem traurigen, seligcn,
über dem demütigen, stolzen,
jetzt so stolzen Gesicht:

„Bruder!" Wilhelm Schmidtbonn

roberung der Luft".

Die Antriebskraft zu jener freudigen und be-
geifterten Woge des Gebens, die vor einem Jahr
durch das Volk rauschte, als das Luftschiff IeppelinS
bei Echterdingen unterging, wurde damals allgemein
auf einen Ausbruch von Sentimentalität, gemischt mit
Opposition gegen das eng schauende Kriegöministerium,
zurückgeführt. Aber quoll ihr tiefes, belebendeö Ge-
heimnis vor allem nicht eher aus dem Wind, der aus
der Werkftätte in Friedrichshafen und aus andern erfolg-
rcichcn Luftschiffahrts-Unternehmen dem Volke um die
Nase wehte? Denn dieser Wind war angefüllt mit den

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