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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 18.1909

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Heft 8
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Lissauer, Ernst: Über Agnes Miegel
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Reuß, Franz: Vier Prosadichtungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26461#0084

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Über AgneL Miegel.

aber scheidet den Begriff der Wandlung zum Höheren
nicht aus; Reaktionäre bleiben in der Tradition stecken,
Revolutionäre ahnen Sinn und Segen der Tradition
nicht: es gilt, in der Tradition wurzelnd, sie fort-
zubilden. Anfänge hierzu sind bei Agnes Miegel zu
finden. Jhre nächsten Gedichte werden entscheiden, ob
sie ihre großen Kräste zu ganz selbständigen Gebildcn
zu binden vermag, oder ob sie in Überlieferung ein-
gesprengt bleiben, weil sie der bergmännischen Tugend
ermangelt, die auS Quarz und Schiefer das Gold löft.

Ernft Lissauer.

ier Prosadichtungen

von Franz Reuß.

Verschlafeneö Landftädtchen.

Jch hatte eine Stunde Aufenthalt und wandelte in
das Nest hinein.

Ein allgemeiner Mittagsschlaf hielt eö gebannt.

Jn den Kastanienbäumcn lärmten Sperliuge und
in den Bürgergärtchen schlunmrerten alte Frauen auf
den Bänken vor den HauStüren und gefleckte Katzen
spannen in der Sonne.

Die Bienen summten um die Balsaminen und Dahlien.
Die Sonnenrosen schauten dcr Sonnenscheibe inS Antlitz
und die roten Blüten der Stangenbohnen glühten.

Es roch nach Gurkenkraut, Quendel, Bohnenkraut,
Fenchel, Dill, und Salbei. Es duftete nach frischen
Gurken und eingesottenen Früchten.

Aber oben, hoch über allen Giebeln im Blauen, da
schwamm auf prächtigen Schwingen in wciten, sicheren
Kreisen cin spähender Raubvogel über den Gärtchen,
über dcn Ställen, über den Sperlingen auf der Straße
und über den Kücken und Kielhasen in den Höfchen ...

— Eine Hoftür knarrte in ihren Angeln. Jrgendwo
in einer Nebenftraße sang ein Mädchen. Jn einem
Stcinhöschen stapften auf den Fliesen mutig zwci winzige
Hösleinhelden umher und schmetterten aus starken Lungcn
das Hcnkeltöpfchenlied in den beschaulichen Frieden der
Verdauungöstille, die über allen Gaffen flimmerte.

Es glitzerten in der Sonne die Glimmcrkristalle der
Prellsteine und die roten Dächer lachten lebensfroh
hinter Ebereschen hervor, deren Fruchttrauben sich zu
färben begannen.

O.uer über der Straße stand ein halbvoller Leiter-
wagen, mit rotem Klee beladen; ein angeschirrter
Schimmel bielt vor der Türe seines Stalles, scharrte
mit dem linken Vorderhuf und wehrte mit dem Schweif
die Fliegen ab.

Oben an der Kirche hockte ein Bübchen auf einem
kleinen Handwagen.

Es rief mir zu: „Geben Sie mir einen Schubs!"

Ratternd rollte das Wägelchen die sanft geneigte
L>traßcnseite hinab und rumpelte gegen den Straßen-
brunnen.

Verschlafen lag der Ort und sonnenfroh. Die Tauben
gurrten. Die Gärtchen rochen nach Würzkräutern; auö
den Häusern duftete es nach frischen Gurken und ein-
gelegten Früchten.

Und es war alleö Behaglichkeit.

Der Durchstich.

O.uer durch den Hügelzug führen sie im nächsten
Frühjahr die neue Straße.

Darum haben sie jctzt den Hügel entzwei geschnitten.

Eine tiefe Wunde klafft im Berg. Eine ungeheure,
schreiende, rote Wunde.

Daö rote Erdreich liegt wie rohes Fleisch zu Tage
und die Sonne betrachtet die Wundränder.

Jn bläulicher Röte leuchten die beiden Hänge des
Einschnittes und in bläulicher Röte strahlt seine ebene
Sohle.

Wie eine tiefe, schreiende Wunde gähnt die frische
Spalte.

Jhre steilen, roten Wände sind von gelblichen Kies-
gängen durchzogen, wie eine nackte Wunde von Eiter.

Die Steilkanten sind abgebrochen, wie wogen-
unterwaschene Mergelwände am Mceresstrand.

Die braunen Fruchtkolben des Wegetritts hängen
über und ein Feld mit reifem Späthafer steht linkö am
Rand. Der Hafer ift so goldbraun, wie das Sommer-
fell der Hirschkuh.

Auf der andern Steilkantc ist ein Stoppelfeld. Auf
diesem gehen langsam und schnatternd graue Gänse und
rupfen vergeffene Gerftenähren und grüne Blätter, die
zwischen den Stoppeln wuchern.

Die kleine Gänsehirtin aber sitzt im blauen, kurzen
Röckchen strickend überm Abfall und läßt ihre bloßen
Kinderfüße herunterbaumeln.

Um ihre braunen Füßchen flattert ein Pfauenauge.

Übcr der schreienden, ungeheuren Erdenwunde sitzt
harmlos und stillzufrieden im Herbstlicht das sinnende
Märchen . . .

Um Mittag.

Friedvoll schläft die Heidekate in der Mittagsonnc.
Ein Gedicht von schwärmenden Bienen träumt um den
wilden Wein, der ihre Sparren umrankt. Und unterm
wulstigen Strohdach schießcn die Schwalben ein und aus.
Auf dem Strohdache surrt ein hölzernes Windrädchen.

Ein siegstolzer weißer Hahn, der prächtig auf stäm-
niigen Ständern inmitten seincr plusternden Glucken
steht, jauchzt seinen Triumph in die dämmerige Stille.

Am Stalle hin schnurrt ein rotbunter Kater mit
steil aufgerichtetem Schwanz.

Auö der schwarzen Tiefe des Schweinekotters grunzt
die satte Daseinöfreude.

Und ein pechschwarzes Haupt wird sichtbar hinter
der Türe des Bcischlags, ein schwarzes Haupt mit
schwarzen Augen, mit einem weißen Fleck auf der
Stirne zwischen den eigensinnigen Hörnchen.

Eine feuchte, mausgraue Schnauze schnuppert hinaus
in die linde Sommerwärme.

Der schwarze Prinz guckt aus seinem Palast heraus.

Der schwarze Prinz, das Stierkalb deö Hauses.

Seine Augen blicken melancholisch und kraftstrotzend
wie die saftgeschwellten, in kraftbcwußter Melancholie
schwimmenden Augen eines feurigen Jünglings, der
seinen Drang beherrscht. —

Aber draußen schlägt der Wolfshund an.

Ein Wägelchen klappert weit, weit unten auf der
Straße. Und ein Mann im roten Kittel springt neben

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