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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 18.1909

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Heft 11
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Ammann, Karl Heinz: Die Geschichte des Goldsäckleins
DOI Artikel:
Bacmeister, Ernst: In Konkurrenz mit dem Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.26461#0186

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Dic Geschichte des Goldsäckleins.

eö sei unter solchen oft eine koftbarere Menschengattung,
als die sich in Samt und Seide umtreibe und im
Überfluß verkomme, weil ihr das im Elend nicht wohl
zustoßen könne.

Noch hing er diesem Worte nach, das so hübsch
auf seine heutige Lage gemünzt erschien, da fiel ihm
ein Streisen LichtS der höherkommenden Sonne aus die
rechte Wange und kitzelte ihm das Auge, sodaß er sich
aus die andere Seite herumwars, woraus der Strahl
über sein linkes Ohr wegging und dieses freundlich zu
wärmen begann. Kurz hernach sah er ihn an der
Wand drüben erscheinen, auf der braungclben alten
Kommode, und zwar ließ er dort, wie um seine heitere
Macht zu zeigen, den geschweiften Messinggriff erglänzen
und rückte dann bedächtig schief hinunter, biS er auf
die untere, offenftehende Schublade ftieß und dort in
allerlei Weibs- und Wäschekram etwas Erbsengelbes ins
Licht setzte, das Leodegar, wie durch eine Farbcnerinnerung,
plötzlich an das Goldsäcklein denken ließ. Er scheuchte
nun zwar diesen Gedanken ebenso rasch, wie er sich ihm
eingeftellt hatte; dafür blieb ihm aber eine Erinnerung
an eine Übung seiner Knabenzeit: mit der Sonne auf-
zuftehn und den Vater auf seinen Frühgängen durch
Ställe und Scheunen, in die Feldcr oder in den Wald
zu begleiten, all das schon vor eingenommenem Früh-
stück. Und nicht so schnell hatte er das gedacht, als
er auch schon außer dem Bette ftand, entschlossen, das
HäuSlein zu verlassen, wenn es anging ohne Wissen
des schlafenden Mädchens.

Jndem er sich aber bedachte, ob er in solchem Un-
dank davongehe, trat er unter die offene Tür des
andern Iimmers, hemmte den Schritt und sah drinnen
das Mädchen in friedlichem Schlaf. Über ihrem Bette
hing das ziemlich große Lichtbild eineS glattfrisierten
jungen Mannes, nach Gesichtsausdruck und Kleidung
zu schlicßen eines Amerikaners. Über den oberen Rand
des BildeS bog sich ein Stechpalmenzweig mit einigen
brandroten Beeren, der Leodegar wie ein Sinnbild
schmerzender Untreue erschien. Diesen Eindruck ver-
mehrte in diesem Augenblick die Schlaflage des Mäd-
chenS, daö dem stachelgeschmückten Pankee dic Rückseite
wandte und soeben im Traume das Gesicht in bitterem
Hohn verzog. Jndeö sah er dieses auch schon sich
wandeln: ein sonnenhaftes Lächeln begann darüberzu-
tänzeln; der Mund zitterte leicht und reizvoll und in
den Winkeln der geschlossenen Augen blinkerten wie
hüpfende Flämmchen Übermut und Scherz. Während
jedoch der Beobachter diesem Empfindungötausch auf
dem Mädchenantlitz zusah und darüber in seinen Ge-
danken ganz des eigenen Elends und der augenblicklichen
Umgebung vergaß, glaubte er daö Gesicht der Schlafenden
sich ein weiteres Mal wandeln zu sehen, und je mehr
er hinsah, wie auf etwas Seltsames, das da vorgehe,
erschien eö ihm wie seit alter Ieit bekannt, und die
Gewißheit, diesen Iug, ja das Gesicht selber schon ge-
sehen zu haben, stand miteins vor ihm da; nicht sie
allein, sondern mit ihr verbündet und ineins geschloffen
allcs Furchtbare, was ihm den Atem benehmen und
das jagende Herz ftillftellen mußte.

Es muß das blitzschnelle Vorbeijagen zweier Ferien-
tage gewesen sein, eine Erinnerung, die Leodegar in

nachtwandlerischcr Weise aus dem Zimmer gehen ließ,
nicht ohne daß er bei der Kommode vorbeigehend einen
Gegenftand unbesehen in seine Tasche gefördert hätte.
Erst als er daS Häuölein des MädchenS hinter sich
und das grünweiße Gattertürchen zugezogen hatte und
in den Menschenwirbeln der Stadt mitgerissen wurde,
nahm er einen Augenblick daö gelbe Säcklein unter die
Augen, prüfend, wie man wohl ein Geldtäschlein prüst,
ob es zu einem Frühstück und Mittagessen noch hin-
lange. Doch fand er Stück um Stück noch darin vor.
und eine menschenkundige Kellnerin gab ihm für das
Pfand der Träubleinbrosche einige Tage Iehrung, bis
ihn der Lohn ehrlicher Arbeit befreite.

JeneS Mal wurde die Brosche zum zweitenmal aus
der Verpfändung gelöst; das Goldsäcklein aber war zum
drittenmal gestohlen worden, obzwar nur von seinem
Eigentümer. Damit hätte es endlich scine Ruhe gc-
funden, wäre nicht seine dreifältige Geschichte auf geraden
und auf Umwegen bekannt und herumgetragen wordcn.

O^nKonkurrenz mit dem Kunstwerk.

« Wir können in jedem Augenblick einen unschäd-
lichen Selbftmord begehen. Wir brauchen nur
unsere Aufmerksamkeit ftreng und unerbittlich gegen alle
ablenkenden Reize auf einen nichtssagenden Punkt zu
konzentrieren, so fällt bald alleS von uns ab, was unser
Selbst ausmacht, alles Bewußtsein und Gefühl von
der Welt und von uns in ihr. Wir schlüpfen in den
nichtösagenden Punkt hinein und sind selber so nichts-
sagend, so nichtig wie er; wir haben uns bei lebendigem
Leibe seelisch gemordet.

Natürlich muß eö wirklich ein nichtssagender Punkt
sein, den ich firiere. An einer noch so winzigen
Semmelkrume auf dem Frühstückstisch gelingt mir das
Experiment wenigftens so lange nicht, wie ich mir der
Semmelkrume als einer solchen bewußt bin; denn
so lange steht diese punktgroße Krume durch die
Macht der Assoziation zu dem Frühstückstisch und von
ihm aus weiter zu der ganzen Welt in Beziehung und
ich mit ihr als der subjektive Tummelplatz diescr ob-
jektiven Beziehungen. Da es nun aber eine gewiffe
Anstrengung kostct, diese Beziehungen von der Semmel-
krume abzulösen und sie zum neutralen Punkt zu
vernichtigen, scheint es für das selbstmörderische Unter-
nehmen bequemer, sogleich einen wirklichen, mathe-
matischen Punkt, schwarz aus weiß, der von vornherein
aus nichts über sich hinaus weiterdeutet, zu wählen
und durch Konzentration auf ihn das Nirwana, das
seelische Nichts zu gewinnen. Aber dann wird man
merken, daß auch das kürzeste Verweilen in diesem
punktuellen Nichtö sehr schwer, ein längeres Verweilen
darin unmöglich ist: unsere Seele schwillt aus der
künstlichen Ebbe in unhemmbarer Flut wieder auf, und
wir werden uns der Welt und unseres Selbft wieder
bewußt, ob wir wollen oder nicht. Der korror vaoui
erlaubt unö nicht nur nicht, durch den doch immer eben
noch punktuell vorhandenen Punkt in das absolute und
vollkommene Nichts hindurchzuschlüpfen, wahrscheinlich,
weil eö ein solcheö garnicht gibt, - sondern er treibt

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