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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 18.1909

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Heft 12
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Lissauer, Ernst: Neue Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.26461#0229

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eue Lyriker.

Weihnachlen ift das Fest, an dem am meiften
gekauft und geschenkt wird. Die Lyrik, die
ja von je im marktenden und scharwerkenden Bereich
des Literarischen der jüngfte erbelose Sohn, der Sinner
und Träumer, gewesen ift und ihrenr Wesen nach
auch sein muß, gewinnt von diesem llberschwang des
Preisens und des Kaufens verhältnismäßig wenig.
Anthologieen „gehen", und ein großer Teil der Keller-,
Storm-, Meyer-, der Dehmel-, Rilke-, Hofmanns-
thalschen Gedichte, die ins Publikum gelangcn, werden
um diese Zeit verkauft. Den minder bekannten Lyrikcrn
wird auch um diese Zeit das Publikum nicht erschlossen.
Heut wie ehemals müssen die jungen Talente warten,
und die wirklichen Kräste können es auch innerlich ver-
tragen; immerhm ift die dichtcrliche Seele so eingcrichtet,
daß sie srcudiger und reichlicher hergibt, wenn ibrein
singenden Wort einige Antwort lohnt, und immerhin
ist es ein wenig leichtsinnig in Rücksicht auf die
Dkonomie unserer geistigen Habe gebandelt, wenn man
den jungen Dichtern die Wahl läßt, zu verhungern,
in wescnsfremder Mühsal zu verkommen oder Söhne
begüterter Familien zu sein. Die Meinung ist nicht
genügend vcrbreitet, daß der kunstfreudige Mensch im
Jntcresse der Nation sich bewußt sür junge Talente
interessicre. Nur dann hat das Anzeigen und Hin-
weisen einen inneren Sinn, wenn der Gebildete die
Verpflichtung fühlt, einer neuen Krast an seinem kleinen
Tcil zu helfen, und wenn er einem ernstlich bemühten
Kritiker vertraut. Gedichte, die Tausende ergreisen,

wenn der Dichter durch einen Roman oder ein Drama
bcrühmt geworden ist, besitzen die gleiche Macht ver-
mutlich auch zu Iciten seiner unbekannten Jugend.

Es soll in den folgenden Zeilen nicht versucht werden,
die gegenwärtige Lage dcr deutschen Lyrik zu zeichnen.
Weder von Dehmel noch George noch Hofmannsthal
soll gesprochen, über Rilke und Dauthendey wird in
besonderen Aufsätzen gehandelt werden. Es gilt nur
aus der Fülle der neuen lyrischen Erscheinungen einige
herauszuheben. Wohl ist es möglich, daß wertvolle
Talente hier nicht genannt werden; aber die erwähnten
sind voller Bcdeutung oder Möglichkeit.

Es ist von mir in diesen Blättern oft betont worden,
und es kann gar nicht genug betont werden, daß die
lyrische Technik eine ungemeine Höhe erreicht hat und
mehr als je zuvor die Sprache, die Konvention, sür
den einzelnen dichtet. Ja, auch die gewiß sprachlich
differenzierte Art der Lyrik, die sür die letzten zwanzig
bio dreißig Jahre charakteristisch ist, ist bereicö zu einer
Konvention crkaltet und erstarrt. Ein Lexikon von
Worten, Auödrücken, Gesühlen, Themen ist entstanden,
aus Grund dessen der Epigone poesieäbnliche Gebilde
zu schaffen vcrmag. Selbstverftändlich wird dem solcher-
maßen geschulten und mit einem bestimmten Maß von
Kunftgefühl Begabten das eine oder andere Gleichnis
oder gar das eine odcr andere Gedicht gelingen. Jn
dem Gedicht auf „Die Mitte des Quattrocento", in
den „Versen" Ottos von Taube, ftehen ein paar schöne
Ieilen, und S. Friedländers Buch „Durch blaue
Schleier" enthält einen halb sonett-, halb hymnus-
haften Gesang, der nur ein wenig größerer Klarheit

und Gelöftheit bedürfte, um ein wertvolles Gedicht zu
jein: aber was diese Bücher sonst bieten, ist in so
hohem Maß entweder von Vorbildern abhängig oder so
geschmacklos, verworren, gekrampft, undichterisch, leb-
los, daß die Bücher trotz der paar „gerechten" Zeilen
nicht gerettet werden können.

„Schutt" heißt das erste Gedichtbuch von Fr. Ollan;
in ihm ist aller Schutt und Unrat der Menschheit auf-
gefahren: eS wimmelt von Dirnen, Zuhältern, Mördern,
Wüstlingen. Aber, wie über dem Spelunkenviertel
einer Großstadt, über Lärm und Lüsten, über Zoten und
Iank, plötzlich einmal ein Mond oder ein Stern sriede-
breitend und ftillend steht, so scheint über all diesem
wüsten wirren Versgetöse plötzlich das milde Licht einer
Güte: ein Ulan, ein verlumpter, versoffener, häßlicher
Kerl, den niemand leiden kann, und „Ketzer", ein böses,
bockiges, ftoßcndes Pferd; und diese beiden elenden und
einsamen Kreaturen mögen sich, er stiehlt dem Pferde
Haser, und es hat ihn gern:

Aber der Ketzer war Krippensetzer,
und eines Tages, da fiel er urn.

Da lag er steif in der Bor, der Ketzer
und neben ihm knietc blaß und stumm
der Lumpenkerl mit den häßlichen Pocken
und strich ihm plump durch die Mähnenlocken.

Jn diesen Versen lebt eine wahre Christlichkeit und
eine dichterische Kraft voll unbekümmerten Tempos und
kecker Rhythmik, die Hoffnungen erweckt. AlS ich
diese Gedichte an andrer Stelle anzeigte, sprach ich die
Hoffnung auS, daß der Dichter über die Verve zur
Wucht, vom Genre zur Größe vordringen möge, Nun
ist das zweite Buch des Dichters erschienen, „Balladen
der Liebe", — Fr. Ollan und Friedrich Volland sind,
wie aus Namen und Stilverwandtschaft erhellt, iden-
tisch — und erweisen einen Fortschritt. Auch hier findet
man noch die gleiche Vorliebe sür Menschheitsschutt
und -gerümpel, in allen diesen Balladen bandelt es
sich um „Liebe" im engsten wie im weitesten Sinn,
und dieses Betonen des Erotischen gibt ihnen eine mono-
manische Beschränktheit im Gegensatz etwa zu denen
von Liliencron oder Agncs Miegel. Die meisten Balladen
sind scrner viel zu lang; die Krast der zuhauenden
Faust wird dadurch beständig gehemmt und geschwächt,
und endlich ist auch sprachlich noch nicht das Maß von
Selbständigkeit erreicht, das diesem Dichter einen Platz
in der Balladendichtung der Gegenwart verschaffte.
Aber Griff und Verve sind durchauö vorhanden, be-
sonders in Teilen der ostpreußischen Ballade: der Guts-
herr läßt die Hunde aus die Bauernmagd hetzen, die
er verführt hat, und die ihn anklagt, aber es sind die
Hunde, die sie selber großgezogen hat, sie lecken ihr die
Hände, und der rohe grausame Herr fällt auf die Knie:

Und war ihm noch, als ob ein Lachen klänge,
als ob das Lachen wie ein KLter bisse ...
als obs wie Hauer in die Seele dränge
und ihm den Hochmut aus dem Leibe risse.

Und war ihm noch, als ob ein Fuß ihn stieße,
als ob die Gerte ihm ein Schandlicd pfeife,
als ob cin scharfer Hieb die Stirne streife,

Und Blut und Chre übers Pflaster fließe.

Solches Iupacken ist noch sonst da und dort in dem
Buch zu spüren, in Strophen des „Mara"-Gedichts,
im „Lied vom Juft von Lebelang". Kraft, bänkel-

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