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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 18.1909

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Heft 10
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Lissauer, Ernst: Über Friedrich Naumann als Prosaiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.26461#0149

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Über Friedrich Nmmialm als Prosaiker.

Grundemdrücke gegenüber den landschaftlichen Amoretten
und Girlandcn: der Verkehr hat unö die Möglichkeit
gegeben, viele Objcktc kennen zu lernen und miteinander
zu vergleichen, und so den Sinn für daö Konstruktive
in uns gestärkt. Parallel hierinit sieht Namnann die Ent-
wicklung dcr Architektur mit ihren eisernen Materialicn,
mit ihren „kahlen, konstruktiven Linien, ihrer kunst-
vollen Geometrie im Großcn."

Die Größe von Naumanns Bildern hängt zusammen
mit diesem scinem Natur- und Architekturgcfühl. Um
die große Stadt darzustellcn, braucht cr ein Gleichniö
aus der alpinen Natur; einen Sonncnuntergang über
Paris nennt er „das Alpenglühen der Riesenstadt". Dcr
Strom des Maschinenlebcns „wird brcit wie die Nieder-
elbc bei Hamburg". Dcn „massigcn Schädel" Biö-
marcks hat Lenbach „mit dcn Augen umwandert wie
nur je ein Tourist das Gebirge". Er gcstaltet mit
wcnigen Worten große Natur. Die Alpen: „Jn ihrcn
Riffen und Falten liegcn alte Schmerzcn dcr Erde,
überwundcne, kalt gewordene Schmerzen. Man ahnt
ohnc viel Redens, wie unsagbar schwer die Geburt
dieser Berge gewescn ift." Die Wüste: „Eö ist, alS
ob cine Küste lcise in das Meer sühre, und als ob
es dann seinen tiefen blauen Schlaf schlicfe. Aber in
dieser Bläue ist keine Näffe." Und mit einer aller-
einsachsten genialen Wendung bannt er die weißen
Meilen der Wüstc im Mondschcin: „AlS ob sie ein
Stück Mondoberfläche wäre."

In glcicher Weise gcstaltet cr die Größe der werden-
den inoderncn Architektur. Einen Absatz dcs EiffelturniS
nennt cr „einen Urwald eiserncr Äste", und die Schlötc
„die Minarctte deö Abendlandcs". Jn der mannig-
faltigstcn Art belebt er die Maschinc. Sie ist ihm
„dcr cisernc Mcnsch", der alles tut, was irgend ein
Glicd deö menschlichen Körperö mechanisch lcistet, der
sieht, hört, tritt, knetet, walkt, reibt, preßt; sie ist e'in
mctallenes Tier, daö mit Wasser und Kohle zufrieden
ist, geduldiger und leiftungsfähiger alö ein Kamel;
sie ist ein metallener Sklave; sie ist „cinsältig", sie
ist „dcutsch in ihrem Naturell". Er fühlt die un-
gehcurc Entwicklung, die den Maschinen bevorsteht.
Zhr Reich ist das wahre „Land dcr unbegrcnzten Mög-
lichkeitcn": „Saust und braust ihr Räder, ihr tragt
die Zukunst!" Er weiß, welche Gewalt diesen eiscrnen
Mächten eignet: „die Werke dcr Menschen sind mächtigcr
als die Menschen". Die Maschine wird, wie Hebbels
„Moloch", größer als der Mensch, der sie erschus; wie
dort der geformte Gott den Schöpser unterjocht und
selbst formt, so hier die Maschine den Menschen: „Wir
bauen Maschinen, die uns umgeftalten".

Wie die landschastlichen Massenwirkungen, wie die
eisernen des Eiffelturms, wie die steinernen der Welt-
stadt, so sucht und liebt Naumann dic menschlichen
Maffenwirkungen.

Der LiberalismuS ist die Lehre vom Jndividuum,
und Naumann betont dcn Wert dcr Einzelpersönlichkcit
allcrorten. Aber das Wescntliche und Urtümliche seincr
Darstellungen ist dennoch das Soziale, wie ja auch
der individualistische Gedanke von altcrsher dem Liberalis-
mus eignet und die wesentlichen und zukunftskräftigen
sozialen Fermcnte erst durch Leute wie Barth, Gothein,

Schradcr und eben Namnann selbcr in ihn hinein ge-
getragcn sind. Naumann ist ein gutcr Schriftfteller
auch dort wo er vom Einzelncn spricht, aber wenn cr
von der Masse spricht, so findet er ganz von selbst
große Tönc. Der alte Liberalismus faßte die Masse
alö eine Addition von Jndividuen auf, als cine Summe
von Einzelheitcn und hatte in scinem Nationaliömus
kein Vcrständnis für das Jmponderabile, daß eine Gc-
mcinschaft, Gemeinde, Klasse, auch eine Volksversamm-
lung und ein Theaterpublikum, mehr sind als eine
Summe, nämlich ein organisches Ganzes, in dem der
einzelne ertrunken ist.

Allenthalben bei Naumann finden wir Darstel-
lungen menschlicher Masse. Sombart sagt in seincr
Schrift über „das Lebenswerk von Karl Marx", die
eigentliche große Lcistung der großen Gelehrten sei,
„daß sic unö Menschcn schauen ließen": Mommsen
hat den Römer, Burkhardt den Renaiffancemenschen,
Marx dic Subjekte deö Kapitalismus, die kapitalistischcn
Untcrnehnier, entdcckt. Naumann, so kann man fort-
fahren, hat die Masse als solche in einer für dic
Gcistesgcschichte bleibenden Art dargcstellt. Die Maffc:
nicht nur eine Klaffe, nicht nur den modcrncn Lohn-
arbeiter, sondern die ganze Masse derer, dic vom Lohnc
lebt, Arbeitcr, Gehilfen, Komniis, Privatangcftellte,
tcchnischc Beamte. Übcrall >n seinen Schriften erscheint
dcr Hccrbann dcr Masse: „eö quillt aus dcr Tiefc dcs
Lebens, eö schrcitct daher wie cine Karawane dcr Ewig-
keit, es kommt die Arbeit!"

Er stellt sich, alö er vom Eiffelturm auf Paris blickt
»nd das Wohnungselend bcdenkt, „einen Mietzahltag
von PariS" vor: „die Masse bringt Fünfzigfrankscheinc".
Jn der bildenden Kunft sucht er nach Darstellungen
menschlicher Masse. Er hebt an dcm Bilde einer Attackc
hervor, daß hicr einmal „Maffenbewegung" vorhanden
sci, während die heutigcn Maler im allgemcinen kcine
Massenbcwegungcn mehr malcn könnten, „wcil sie durch
kleineS Einzelftudium für die Wucht, die in der Mcnge
licgt, verdorben sind, weil sie cinzelne Pfcrdc und
Menschen malen, aber nicht den Untergang aller Ein-
zelnen im Anprall der Masse". Wenn er in solchem
Zusammcnhange sagt, die heut gemalten „Maffenver-
sammlungen" seien eine Addition von hundert braven
Studienköpfen, so läßt sich dies genau auf den
älteren Liberalismus und den heutigen JndividualismuS
anwenden.

Jm Gegensatz hierzu lobsingt er der Rubensschen
„Massenphantasie", die den „Sturz dcr Verdammten"
schuf. „Die Wolken brcchen, und aus dem Lichte
Gottcs stürzt cinc Legion von Menschen in die Hölle.
Seht, wie sie fallcn! Nicht der cinzelne fällt. Was
ift schließlich der einzelne? Die Maffe rutscht, sinkt,
bricht, verlicrt den Bodcn unter den Füßen. Die Alten
und Fettcn, die Kleinen und Feinen, Verführer und
Verführte, das ganze Getriebe der sinnlichen Welt, alles,
alles fällt. Einö zieht das andere mit hinab. ....
Seht, seht, wie sie alle sich nicht mehr halten könncn!
Das Jch ist geftorben, aber sein Todeslaut umzischt
noch die Leiber!" Diese Massenphantasie hängt psycho-
logisch mit den zuvor dargelegten Beziehungen des
RcdnerS in Naumann zu cincr angeredeten Masse zu-
 
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