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Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — 4.1918/​1919

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Risse und Sprünge in Gemälden, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.52777#0072

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der Körper überwunden wird. Die Torsionsfestigkeit (Drehungsfestigkeit)
kann wohl nur bei selten vorkommenden großen Gewalten, etwa bei Un-
glücksfällen auf Eisenbahnen oder bei wüsten Erdbeben mit verwickelten
Einstürzen, in Anspruch genommen werden. Über die Festigkeit der Farb-
schichten findet sich in der angedeuteten Literatur keinerlei Aufschluß. Die
Biegungsfestigkeit beschäftigt uns zunächst hauptsächlich für den Malgrund,
und als einleuchtendes Beispiel sei auf ein Holzgemälde hingewiesen, das
geschwunden ist und beim Geradebiegen entzweigeht. Die Zugfestigkeit wird
in Anspruch genommen beim Spannen bemalter Leinwand und innerhalb
der Farbenschichten beim Austrocknen dicker Pinselstriche.
Eine Analogie zu den Eigenschaften der Farben selbst, die auf dem
Malgrund sitzen, ist nicht so leicht gefunden. Beim Aufträgen flüssig (zäh-
flüssig bis dünnflüssig), dann allmählich immer zäher werdend, schließlich
hart und spröde, sind die Farbenschichten der Gemälde schwieriger zu be-
urteilen als die festen Unterlagen. Der Übergang zum Hartwerden vollzieht
sich in den Farbenschichten überaus verschieden, schnell oder langsam, je
nach der gewählten Technik. Ungemein rasch erstarrt das echte Maleremail.
Rasch trocknet die gewöhnliche Aquarellmalerei und die Leimmalerei (Gouache).
In einiger Entfernung schließt sich die Eitempera und die Eiweißöltempera
an. Verhältnismäßig langsam erhärtet die Ölfarbe, wenn ihr keine Trocken-
mittel beigegeben sind. Ich hoffe, über diese Angelegenheit ein andermal
eingehend mich äußern zu können, und will vorläufig nur feststellen, daß
die langsam erhärtende Farbe in ihrem physikalischen Verhalten gewisse
Ähnlichkeiten mit dem Firn und Eis der Gletscher erkennen läßt. Dieses
senkt sich, ja es fließt, wenn auch langsam, zu Tal, obwohl es in anderem
Betracht auch ein fester Körper ist, auf dem man stehen und schreiten, auf
dem man bauen kann. Die Gletscherkunde hat sich mit den Spannungen
beschäftigt, welche im Gletschereis ein Reißen verschiedener Art hervor-
bringen. Manche Vorgänge in der dick und hart gewordenen Malerfarbe
erinnern an die Risse in den Gletschern. Ist die Farbe dick und wüst auf-
getragen und trocknet sie rasch, so tritt das Erhärten schon zu einer Zeit
ein, wenn die Farbe noch nicht diejenige Gleichgewichtslage erreicht hat,
die ihr bei ebenem, geglättetem Anstrich zukommen würde. Die derben
Pinselstriche bilden kleine Gebirge, Unebenheiten, die anfangs, wenn noch
weich, durch die Schwerkraft einer Ausbreitung, Verflachung zustreben. Sind
die Pinselstriche zart, so daß nur eine dünne Farbenschicht auf dem Mal-
grund liegt, und hat die Farbe Zeit, in allen Teilen langsam auszutrocknen,
so sind die kleinen Spannungen, die sich auch hier ergeben müssen, nicht
entfernt imstande, Risse hervorzubringen. Bei dickem Auftrag rasch trock-
nender Farbe ergeben sich jedoch leicht starke Spannungen, denen der Zu-
sammenhang der Farbenschicht nicht mehr gewachsen ist. Dabei kommt es
auch nicht wenig auf die Klebrigkeit der Unterlage an, also auf die Adhäsion
der gewählten Farbe an dem Malgrund. Ist z. B. die Fläche, auf der gemalt
wird, aus irgend welcher Ursache der Farbe physikalisch fremd, das heißt
haftet die Farbe nicht vollkommen fest an der Unterlage, so bilden sich in
der aufgesetzten Farbenschicht sehr bald und leicht Risse. Hieher gehören
die vielen Lasurenrisse, die namentlich an Bildern des 19. und 20. Jahr-
hunderts häufig vorkommen. Farbe und Malgrund, die mit demselben Binde-
mittel zubereitet sind, adhärieren naturgemäß am besten, da sich sogleich
 
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