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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

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Drittes Heft
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Walden, Herwarth: Die seidene Schnur
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https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0051

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Stahl darüber, daß er Kandinsky und Cha-
gall noch heute für Auswüchse hält.
Der Gerichtshof Curt Bauer zieht
sich zur Beratung zurück.
Inzwischen wendet sich der Angeklagte
Curt Bauer an den Verteidiger Curt Bauer:
Ich bitte Sie, dem Gerichtshof Curt Bauer
diese von mir verfaßte Besprechung vorzu-
legen, aus der zur Evidenz hervorgeht, daß
ich von der historischen Entwicklung des Ex-
pressionismus keine Ahnung habe, daß ich
ferner die Begriffe Futurismus, Kubismus
und Expressionismus ziemlich häufig ver-
wechsle. Hierin dürfte ein mildernder Um-
stand zu erblicken sein.
Der Gerichtshof Curt Bauer kehrt
zurück und verkündet:
Der Antrag auf Vernehmung des Zeugen
Fritz Stahl wird abgelehnt, da gerichtsnoto-
risch ist, daß er Gemälde von Kandinsky und
Chagall nie gesehen hat. Dagegen soll Curt
Glaser darüber vernommen werden, wieviel
Leute ein Bild loben müssen, bis es aufhört,
Auswuchs zu sein, Angeklagter Curt Bauer,
welche Bilder sind in Ihren Augen expressio-
nistisch, ohne Auswuchs zu sein?
Angeklagter Curt Bauer:
Bilder, auf denen auch ein Kunstkritiker
deutlich erkennen kann, was sie darstellen.
Richter Curt Bauer:
Ist Ihnen bekannt, daß die expressioni-
stische Malerei überhaupt nicht ,,darstellt"?
Angeklagter Curt Bauer:
Darüber verweigere ich die Aussage, weil
sie mir eine neue strafrechtliche Verfolgung
zuziehen könnte.
Richter Curt Bauer:
Sind Sie überhaupt imstande, Kunst ab-
strakt zu empfinden?
Verteidiger Curt Bauer:
Ich bitte, Herrn Geheimrat Silex als
Sachverständigen darüber zu vernehmen, daß
der Angeklagte an sogenannten malerischen
Sehstörungen leidet. So hält er oft eine
Wolke für einen Mastdarm, oder eine Blut-
wurst, oder Kalbsgekröse. Ich lege ferner
diese Besprechung des Angeklagten Curt
Bauer vor, aus der zur Evidenz hervorgeht,
daß er nicht imstande ist, die Begriffe Ex-
pressionismus, Futurismus und Kubismus
auseinander zu halten.
Angeklagter Curt Bauer:
Ich schließe mich dem Antrag meines
Verteidigers an.

Der Gerichtshof Curt Bauer zieht sich
zur Beratung zurück. Er kommt nach zehn
Jahren wieder und verkündet folgendes Ur-
teil:
Der Angeklagte Curt Bauer wird freige-
sprochen. Er hat zwar jahrelang die Aus-
wüchse des Expressionismus, das heißt, ihre
Begründer und Führer angegriffen. Indem
er aber jetzt ihre Imitatoren, Epigonen, Ek-
lektiker für die wahren Expressionisten hält,
büßt er seine Versündigung am Geist der
Kunst in einer Weise, die als genügende
Sühne zu erachten ist.
Tatbestand:
Der Cicerone Heft 8 Apri!
1919
Prof. Georg Biermann:
Und nun gar der Sturm!
Die Tat Herwarth Wal-
dens, der mit Bekenner-
mut der Zeit so oft um
Haupteslänge voraus war
. . . Und dessen histori-
sches Verdienst immer
bestehen würde, gelte es
nur, den einen Namen
Pranz Marc dem Bewußt-
sein der Zeit eingehäm-
mert zu haben. Er gab
mehr, weil er den Kampf
im ganzen forderte und
durchgefochten hat. . . .
Wieviele der Jungen, die
heute schon Namen haben,
danken den ersten Auf-
stitg aus dem Tal der
Vergessenheit, des Nicht-
beachtetseins dem Sturm,
wie mancher unter den
Werdenden wird hier
noch seine erste Aufer-
stehung erleben.
!nhait
Herwarth Waiden: Die Freiheit der Presse
Kurt Schwitters: Gedichte
Herwarth Waiden: Nachrevolutionäre: Die
regen Geister / Der Händlergeist /
Nochmals die Stadt Kants Der Kampf
gegen den Bolschewismus
Die seidene Schnur: Erster Hals: Der Hexen-
meister / Zweiter Hals: Ubi Behne /
Dritter Hals: Die Gehirnerschütterung
Vierter Hals: Je m'accuse
Johannes Molzahn: Kreisen / Zeichnung
Hugo Händel: Zeichnung
Rudoli Bauer: Original-Farben-Steindruck
Oswald Herzog: Zeichnung

Berliner Börsenzeitung
29. Mai 1919 Curt Bauer:
Unverkennbar hat der
Expressionismus in Ber-
lin das Eeld erobert . . .
sondern auch andererseits
die Auswüchse sei-
nes eigenen Lagers
immer mehr in den H i n-
t e r g r u n d treten. Die
Ausstellungen des Sturm,
den von jeher die Extra-
vaganz im Expressi-
onismus lockte, sind
heute bereits Kuriositä-
ten-Kästchen des K u -
b i s m u s.

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